Zehn Angeklagte vor Gericht Mammutprozess zur Loveparade-Katastrophe beginnt

DUISBURG · Am 24. Juli 2010 starben 21 Menschen bei der Loveparade in Duisburg. Hunderte wurden verletzt. Am Freitag beginnt die gerichtliche Aufarbeitung.

 Kurz vor dem Unglück bei der Loveparade stehen Menschen dicht gedrängt an einem Tunnelausgang. (Archivfoto)

Kurz vor dem Unglück bei der Loveparade stehen Menschen dicht gedrängt an einem Tunnelausgang. (Archivfoto)

Foto: picture alliance / Daniel Naupol

Für Moritz ist heute im Sitzungssaal des Kongresszentrums Düsseldorf ein Platz in der letzten Reihe reserviert. Moritz ist ein neun Jahre alter Podenco, ein Therapiehund. Ohne ihn wäre Gregor Hecker nicht in der Lage, den Prozess zu verfolgen. Eigentlich wäre der 51-Jährige ohne seinen treuen Begleiter zu nichts mehr in der Lage. Der ehemalige Rettungssanitäter sei seit der Duisburger Loveparade mental kaputt, sagt er. „Ich kämpfe mich seither durchs Leben und versuche so gut es irgendwie geht, wieder Fuß zu fassen.“

Besonders in letzter Zeit fällt ihm das aber immer schwerer. Alles käme jetzt vor dem Prozess wieder hoch. Der eine Moment, als das Mädchen in seinen Armen stirbt, das er vergeblich versucht hat, zu reanimieren. Es sind Erinnerungen an den Tag, den 24. Juli 2010, der sein Leben verändert hat – wie das so vieler anderer.

Für Eltern, Geschwister, Großeltern, Tanten, Onkel, all die Angehörigen der Opfer und Tausende Teilnehmer, für ihre Freunde, Helfer, Ordner, Polizisten, Ärzte, Sanitäter, Krankenschwestern, Feuerwehrleute, für sie alle hört dieser Tag bis heute nicht auf. 21 Menschen sind damals gestorben, mehr als 650 weitere verletzt worden, etliche von ihnen schwer. Viele sind bis heute traumatisiert. Und sie alle quält die eine Frage: Wer ist dafür verantwortlich?

Zehn Menschen angeklagt

Vom an diesem Freitag beginnenden Strafprozess erhoffen sie sich Antworten. Auf der Anklagebank sitzen sechs Mitarbeiter der Stadt Duisburg und vier des Veranstalters. Sie müssen sich unter anderem wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verantworten. Nicht angeklagt werden der damalige Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland und Veranstalter-Chef Rainer Schaller. Für den Prozess sind 111 Verhandlungstage angesetzt.

Es ist eines der größten Verfahren der Nachkriegsgeschichte. Das Landgericht Duisburg hat deshalb einen 750 Quadratmeter großen Saal auf dem Düsseldorfer Messegelände gemietet, weil es selbst nicht über so große Räumlichkeiten verfügt. Für die 60 Anwälte und 60 Nebenkläger, darunter auch ein elfjähriges Mädchen, deren Vater sie mit zu Loveparade genommen hatte, wird viel Platz benötigt.

Hecker tritt als Nebenkläger auf. Er hat ein schweres Trauma wegen der Loveparade. In seinen Job als Rettungssanitäter hat man ihn deshalb nicht mehr zurückgelassen. Zu belastend sei das für ihn, habe man ihm gesagt. Seitdem ist er arbeitslos. Eine Verurteilung der Angeklagten für ihn sei zweitrangig. „Weil bis auf zwei, drei Personen die Falschen dort sitzen“, sagt er. Die erste Reihe der Verantwortlichen, das seien für ihn Schaller und Sauerland.

Druckwellen im tödlichen Gedrängel

Hecker war damals 44 Jahre alt. Techno war eigentlich nicht sein Ding. Darum wollte er auch gar nicht zur Loveparade. Ein Freund überredete ihn, doch hinzugehen – privat, nicht als Sanitäter. Nur mal kurz schauen, was da so los ist. Dann weiter auf eine Geburtstagsfeier. So hatten sie es geplant. Im Gedränge verloren sich die beiden schnell aus den Augen. Für diesen Fall hatten sie verabredet, sich am Auto, mit dem sie gekommen sind, wieder zu treffen.

Auf dem Weg geriet Hecker beim Verlassen des Geländes mitten in das tödliche Geschiebe der Menschenmenge, in der es für die meisten nur noch ums Überleben ging. Betroffene wie Hecker schilderten später, wie Druckwellen durch die Menge liefen und die Menschen krampfhaft versuchten, nicht umzufallen. Wer zu Boden gerissen wurde, hatte keine Chance mehr, wieder auf die Füße zu kommen.

Aus einer anderen Zeugenaussage spricht Hilflosigkeit: „Die Mädchen vor mir sind auf einmal so schnell nach unten weggesackt, dass man da gar nicht helfen konnte. Ich habe nur gesehen, die Mädchen gingen runter, und schon war die Lücke wieder zu. Die Menschen wurden dann sofort über diesen Mädchen weitergedrückt und haben dann auch auf ihnen gestanden.“

Manche Hilfe kam zu spät

Im späteren Ermittlungsbericht der Staatsanwaltschaft wird von einem „Menschenberg“ gesprochen, der in kürzester Zeit angewachsen ist. Ein Polizeibeamter gab bei seiner Vernehmung zu Protokoll, dass er mit seinen 1,90 Meter Körpergröße nicht habe drüber hinweggucken können.

Als sich die Reihen lichteten, sah Hecker am Boden viele Bewusstlose liegen, darunter ein Mädchen, das von einer anderen Frau eine Herzdruckmassage erhielt. „Weil ich Rettungssanitäter bin, habe ich sie sofort abgelöst“, sagt der heute 51-Jährige. Er versuchte alles, um das Leben des Mädchens zu retten. Aber seine Hilfe kam zu spät. Das Mädchen starb.

Mit Therapiehund im Gerichtssaal

Bis heute weiß Hecker nicht, wer sie gewesen ist; er weiß nur, dass sie eine der 21 Toten ist. Auch an das, was danach passiert ist, hat er kaum Erinnerungen. Er weiß nur noch, wie er anschließend durch den Tunnel gerannt ist. Am Tag danach kam er in seiner Wohnung wieder zu sich.

Wie er dorthin gekommen ist, auch das weiß er nicht. „Das Schlimmste aber ist, dass ich kein Gesicht mehr von dem Mädchen habe. Ich habe da nichts mehr vor Augen. Das kommt besonders jetzt beim Prozess wieder hoch, wo man Eltern gegenübersteht, von denen man genau weiß, die haben eine Tochter verloren“, sagt Hecker.

Auch deshalb hat das Landgericht für ihn eine Ausnahme gemacht und eingewilligt, dass Therapiehund Moritz mit in den Saal darf.

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