London „Signifikante systemische Fehler“

London · Der Untersuchungsbericht zur Feuerkatastrophe im Londoner Grenfell Tower mit 72 Toten macht den Rettungskräften schwere Vorwürfe. Die wehren sich.

 Ein Feuerwehrmann inspiziert am 17. Juni.2017 in London eine Etage des ausgebrannten Hochhauses Grenfell Tower.

Ein Feuerwehrmann inspiziert am 17. Juni.2017 in London eine Etage des ausgebrannten Hochhauses Grenfell Tower.

Foto: picture alliance / David Mirzoef/David Mirzoeff

Zainab Deen konnte durch die Wohnungstüre hören, wie viele ihrer Nachbarn durch die Hölle rannten. Durch das Treppenhaus mit all dem Rauch, den Flammen. Atemlos. Panisch. Auch die 32-Jährige hatte Angst, hielt ihren zweijährigen Sohn Jeremiah, während sie nasse Handtücher in die Schlitze ihrer Wohnungstür stopfte, um die Rauchschwaden aufzuhalten, die in ihr Apartment 115 krochen. Ein Mann der Notrufzentrale versuchte, sie am Telefon zu beruhigen: „Jemand kommt und holt euch.“ Sie solle nicht aufgeben, sagte der Feuerwehrmann.

Zu diesem Zeitpunkt stand der Grenfell Tower im Westen Londons bereits lichterloh in Flammen, das Hochhaus ragte wie eine brennende Fackel in den Nachthimmel. Zainab Deen befolgte den Rat der Rettungskräfte. Und wartete, harrte im 14. Stock aus. Doch niemand sollte die Mutter mit ihrem jungen Kind retten. Sie starben eingeschlossen vom Feuer in ihrem Zuhause. 70 weitere Menschen kamen an jenem 14. Juni 2017 bei Großbritanniens größter Katastrophe der vergangenen Jahrzehnte ums Leben.

Tödliche Empfehlung

Auslöser war ein Kühlschrank gewesen, der in einer Wohnung auf der vierten Etage durch einen elektronischen Defekt explodiert war. Am Mittwoch und damit mehr als zwei Jahre nach dem Inferno legte die von der Regierung eingesetzte Untersuchungskommission nun ihren ersten Bericht vor. Es handelt sich um ein vernichtendes Urteil über die Arbeit der Feuerwehr. Deren Reaktion habe „schwerwiegende Mängel“ und „signifikante systemische Fehler“ offenbart, heißt es.

Insbesondere die Anweisung der Feuerwehr an die Bewohner, in ihren Wohnungen zu bleiben, wird massiv kritisiert. Obwohl bereits um 0.54 Uhr der erste Notruf einging und die Einsatzkräfte nur wenige Minuten später eintrafen, begann die Evakuierung des 24-stöckigen Gebäudes erst um 2.47 Uhr. Zu spät. „Wesentlich mehr Menschen hätten gerettet werden können“, hätte man früher bestimmte Maßnahmen ergriffen, befand Chefermittler Martin Moore-Bick. Gleichwohl lobt der mehr als 1000 Seiten umfassende Report aber auch die Feuerwehrleute vor Ort, die „Mut und Hingabe für die Erfüllung ihrer Pflicht“ gezeigt hätten.

Die Reaktionen auf die Ergebnisse fielen gemischt aus. Bei der Feuerwehr herrscht Unzufriedenheit, mitunter Wut. Man habe einer „noch nie dagewesenen Situation“ gegenübergestanden, rechtfertigte die Chefin der Londoner Feuerwehr, Dany Cotton. „Wir sind enttäuscht über die Kritik an einzelnen Kräften, die unter beispiellosen Umständen und unvorstellbaren Bedingungen gearbeitet haben, um die Leben anderer zu retten.“

Der konservative Premierminister Boris Johnson zollte den Überlebenden Tribut, die für den Bericht ihre furchtbaren Erlebnisse schilderten. Sie litten unter einem „unvorstellbaren Trauma“, sagte Johnson, der von 2008 bis 2016 der britischen Hauptstadt als Bürgermeister vorstand. Er versprach: „Der Gerechtigkeit wird Genüge getan werden.“

Kritik an Boris Johnson

Einer der beim Einsatz Beteiligten meinte, er sei angewidert darüber, was aus diesem Land geworden sei. Der Mann, der in seiner Zeit als Stadtoberhaupt zehn Feuerwehrstationen geschlossen, 30 Fahrzeuge und 500 Feuerwehrleute gestrichen habe, solle keine Verantwortung tragen, so Gav Lynch auf Twitter. „Aber der Feuerwehr, die völlig zerfleischt wird, wird die ganze Schuld gegeben.“

Überlebende und Angehörige von Verstorbenen zeigten sich dankbar für die Untersuchung und empfanden es gleichzeitig als „herzzerreißend“, lesen zu müssen, dass viele ihrer Liebsten noch leben könnten, wenn das Gebäude früher evakuiert worden wäre.

Während im jetzigen Bericht untersucht wurde, was passiert war, geht es in der nächsten Phase um die Frage, warum es zu der „vermeidbaren Tragödie“ kam, wie der Labour-Chef Jeremy Corbyn das Inferno nannte. Die neu angebrachte Fassadenverkleidung aus brennbarem Kunststoff sei laut Bericht ein „Hauptgrund“ dafür gewesen, dass sich die Flammen so schnell ausbreiteten. Schon vor dem Brand hatte die Mieterinitiative von Grenfell immer wieder – erfolglos – vor mangelhaftem Brandschutz gewarnt sowie auf die Fassadenverkleidung verwiesen. Angeblich hatten wohlhabende Nachbarn diese gewünscht, weil der schmucklose Turm die Aussicht störte. Für die Ummantelung des Sozialbaus aber wurde aus Spargründen entflammbares, günstiges Material benutzt statt der teureren, feuerfesten Ausführung.

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