Theatern in Deutschland geht das klassische, gebildete Publikum verloren Die Krise erobert die Bühne

Gerhard Stadelmaier ist der große, alte Mann der deutschen Theaterkritik. Der Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) ist gerade 65 geworden, ruhig ist er trotz bevorstehendem Ruhestand aber nicht geworden.

 Faust am Boden: Szene aus Alice Buddebergs Goethe-Inszenierung mit Daniel Breitfelder (oben) und Glenn Goltz.

Faust am Boden: Szene aus Alice Buddebergs Goethe-Inszenierung mit Daniel Breitfelder (oben) und Glenn Goltz.

Foto: Thilo Beu

Die Neubesetzung der Intendanz der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin hat Stadelmaier zum Anlass genommen, sich mit dem jetzigen Intendanten (Frank Castorf) und dessen Nachfolger ab 2017 (Chris Dercon) zu beschäftigen. Castorf, der das Haus seit 1992 leitet, habe die Volksbühne "zu einem derartigen Event-Schuppen emporentwickelt, in dem ein Diskurs den nächsten, eine Video-Performance die übernächste, eine Stück-Dekonstruktion die überübernächste kuratiert". Dercon, Chef der Tate Modern in London, komme aus dem Galerie-Gewerbe und habe "vom Theater keine, vom Managen aber viel Ahnung, womöglich mehr als Castorf".

Die Skepsis Stadelmaiers ist nicht zu überhören, die Abneigung gegen das Regietheater à la Castorf evident. Eigentlich schade, denn Neugier aufs Neue, die Auseinandersetzung mit dem Unbequemen, Unbekannten, sogar mit dem Ungeliebten gehören zum Kerngeschäft der Kritik. Doch Stadelmaier, Nachfolger des legendären Georg Hensel bei der FAZ, ist wohl zu oft enttäuscht worden. Die Liebe zur Theaterkunst, wie er sie sich wünscht, haben die Bühnen selten nur erwidert.

Das bringt uns schnell und ohne Umweg nach Bonn. Denn der Einfluss Castorfs und seiner Bühnensprache ist auch hier spürbar - wie in zahllosen anderen Theatern der Republik. Überall werden klassische Texte auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. Oder man greift zu Romanen, Erzählungen oder Filmen und präpariert sie für die Bühne. Zum Beispiel "Herz der Finsternis" nach Joseph Conrad in Bonn. In der Halle Beuel nähert sich Jan-Christoph Gockels Inszenierung dem Stoff mit viel grobkomödiantischem Gewese, Video-Performance inklusive. Alice Buddeberg wiederum hat in den Kammerspielen Goethes "Faust" ordentlich eingekürzt, stellenweise durcheinandergewirbelt und mit koketten Improvisationen ("Eins kann ich, das ist Knitteln") und Projektionen angereichert. Wo Goethe draufsteht, ist nicht mehr viel Goethe drin.

Dem ganzen Vorgang liegt ein elementares, existenziell bedrohliches Problem zugrunde. Den Bühnen in Deutschland geht das klassische, gebildete Publikum verloren. Es wachsen nicht genügend Zuschauer nach, die mit kanonisierten Theatertexten und ihrer Umsetzung auf der Bühne vertraut wären. "Bildung" funktioniert heute anders als früher.

Die Frage für Intendanten, Dramaturgen, Regisseure und Schauspieler lautet: Wie verführe ich in Zukunft Menschen zum Theaterbesuch, die mit dem Internet großgeworden sind, von Kultur-, Theater- und Literaturgeschichte wenig wissen und kaum Übung darin haben, komplexe längere Texte zu lesen?

Eine Möglichkeit besteht darin, dem Publikum auf einem niederschwelligen Niveau entgegenzukommen und all die Technik einzusetzen, die den jungen Menschen vertraut ist. Das kann funktionieren, wenn das Theater dabei seinen ganz altmodischen Auftrag erfüllt: Existenzerweiterung. Das Publikum, ob jung oder alt, soll verändert - bewegt oder beladen, glücklich oder verunsichert - aus dem Theater herauskommen.

Diesen Anspruch hat in Bonn das Projekt "Schatten::Frau" in der Spielzeit 2013/14 wunderbar verwirklicht. Denn hier wirkten Verkabelung und audiotechnische Details nicht als Selbstzweck, sondern als dienender Bestandteil der Theater-Erzählung. Wer hingegen nur Effekte abfeuert wie im Fall von "Herz der Finsternis", kann sein Thema nicht vermitteln. Und wer Goethe aus dem "Faust" herausrationalisiert, kränkt das gebildete Publikum, ohne - vermutlich - die herbeigesehnten jungen Zuschauer anzulocken.

Man wünscht den Theaterleuten von heute etwas vom Selbstbewusstsein alter Meister wie Peter Zadek. Sie konzentrierten sich aufs Wesentliche: das Stück, seine Geschichte und die Arbeit mit den Schauspielern. Vor der Zukunft der Institution hatten sie keine Angst. "Auf die Zukunft des Theaters scheiße ich. Ich war immer nur an der Gegenwart des Theaters interessiert", hat der Theatermagier Peter Zadek 1998 erklärt.

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