Fall Michael Brown Der präventive Notstand

WASHINGTON · Der Spruch einer Geschworenen-Jury im Fall Brown steht in Ferguson unmittelbar bevor - und in Ferguson befüchtet man bereits wieder neue Ausschreitungen.

 "Niemand weiß, was uns erwartet": Friseurmeisterin Constance Garnett.

"Niemand weiß, was uns erwartet": Friseurmeisterin Constance Garnett.

Foto: dpa

Monate nach dem landesweit kontrovers debattierten Tod des 18-jährigen Afro-Amerikaners Michael Brown, der von dem weißen Polizisten Darren Wilson nach einem Streit mit mindestens sechs Kugeln erschossen wurde, ist in Ferguson die Atmosphäre zum Zerreißen gespannt. Die Kleinstadt in Missouri stellt sich auf schwere Unruhen ein. Für den Fall, dass die vorgerichtliche Geschworenen-Jury nach wochenlanger Sichtung von Beweismitteln und Zeugenaussagen keine Gründe erkennt, um Wilson den Prozess zu machen.

Bereits kurz nach dem Zwischenfall am 9. August kam es in dem mehrheitlich von Afro-Amerikanern bewohnten Vorort von St. Louis zu Ausschreitungen zwischen Demonstranten, die in der Erschießung Browns einen rassistischen Willkür-Akt der Polizei sehen, und der Staatsmacht.

Dabei kamen Tränengas, Gummigeschosse, Blendgranaten und gepanzerte Fahrzeuge zum Einsatz, wie man sie aus Kriegsgebieten kennt. Es gab Plünderungen und Verletzte auf beiden Seiten. Die streckenweise an einen Bürgerkrieg erinnernden Szenen riefen in den USA Erinnerungen an die schweren Rassenunruhen in den 60er Jahren wach.

Um eine Wiederholung zu vermeiden, hat Gouverneur Jay Nixon vorbeugend den Notstand ausgerufen und die Nationalgarde in Alarmbereitschaft versetzt. Also einen Teil der regulären Streitkräfte, die im Einsatzfall Bürgerrechte außer Kraft setzen können.

Der im Range eines Ministerpräsidenten tätige Nixon rief die Bevölkerung auf, im Falle einer als unliebsam empfundenen Entscheidung der mit neun Weißen und drei Afro-Amerikanern besetzten Jury Ruhe zu bewahren und das Demonstrationsrecht "nicht zu missbrauchen". Er betonte, dass 1000 Polizisten ein Spezialtraining absolviert haben, um wirksamer auf Proteste reagieren zu können. Hunderttausende Dollar wurden in Ausrüstung, Technik und Tränengas investiert. Nixons Entscheidung wurde zwiespältig aufgenommen. Von "Kriegserklärung an die Demonstranten" bis "Warnung zur rechten Zeit" reichen die Reaktionen. Die Bundespolizei FBI warnte unterdessen Polizeidienststellen im ganzen Land vor Racheakten, sollte Wilson ein Gerichtsverfahren erspart bleiben.

Die lokale Polizei in Ferguson erwies sich im Sommer als völlig überfordert. Nicht nur ließ sie das Opfer stundenlang tot auf der Straße liegen und betrieb Geheimniskrämerei um den Todesschützen und die Umstände der Tat. Als herauskam, dass Brown unbewaffnet war, lancierte die Polizei ein Video in die Öffentlichkeit, das ihn kurz vor seinem Tod bei einem Ladendiebstahl zeigt. Was als Entlastungsangriff gedacht war, schürte die Proteste noch mehr. Justizminister Eric Holder in Washington schäumte. Sicherheitskräfte aus St. Louis und der Autobahn-Polizei mussten einspringen. Präsident Obama sah sich zu mäßigenden Zwischenrufen genötigt. Erst nach Tagen konnten die Wogen halbwegs geglättet werden.

Obwohl aus Kreisen der abgeschirmt tagenden Jury bisher keine Signale durchgesickert sind, befürchten Bürgerrechts-Gruppen, dass der Tod Michael Brown ungesühnt bleiben könnte. Während einige Zeugen bekundeten, dass Brown sich mit erhobenen Händen ergeben habe, bevor die tödlichen Schüsse fielen, sagen andere, darunter auch Afroamerikaner, dass der 1,95 Meter große und 130 kg schwere Hüne erst versucht haben soll, dem Officer die Waffe zu entwenden. Später sei er auf Wilson zugestürmt.

Sollte die Jury sich der zweiten Version anschließen und Wilson ein Notwehrrecht zuerkennen, "wäre ein Gerichtsverfahren so gut wie ausgeschlossen", erklärten Experten der US-Anwaltskammer. Für eine Anklageerhebung sind neun von zwölf Stimmen nötig. Die Entscheidung der Jury, die Staatsanwalt Robert McCulloch beaufsichtigt, steht unmittelbar bevor.

Für Kaufleute wie Constance Garnett eine "beunruhigende Perspektive". Sie betreibt an der West Florrisant Avenue, die im August im Zentrum der Auseinandersetzungen stand, den Frisiersalon "Taste of Honey". "Wenn es zu Plünderungen kommt, dann wird uns das sehr viel Geld kosten", sagte sie einem örtlichen Fernsehsender. Die junge Afro-Amerikanerin hat wie andere Geschäftsleute auch die Schaufenster ihres Ladens bereits mit dicken Sperrholz-Platten vernageln lassen.

"Niemand weiß, was uns erwartet", sagt Garnett und spielt damit auf die vielen Protestgruppen an, die nun schon seit Wochen landesweit die Menschen für Demonstrationen am Tag X und danach mobilisieren.

In den sozialen Netzwerken häufen sich unterdessen Horror-Geschichten: von Schwarzen, die sich angeblich mit Munition eingedeckt haben sollen und notfalls Selbstjustiz verüben wollen. Von Waffenhändlern, die seit Tagen ausverkauft sind, weil sich verängstigte Bürger wehrhaft zeigen.

Und auch der rassistische Ku Klux Klan mischt sich in dem kleinen Ort unter die Protestler und Aufwiegler: Auf Flugblättern zeigt er, wie man sich "unter Anwendung von tödlicher Gewalt gegen die sogenannten friedlichen Demonstranten" verteidigen kann. Tipps für gezielte Angriffe, die bei entsprechend motivierten Menschen auf Interesse stoßen könnten. "Ferguson ist am Rande des Wahnsinns", bilanziert die Lokalzeitung "St. Louis Post-Dispatch".

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