30 Jahre Tschernobyl Cäsium-137: Ende der ersten Halbwertszeit erreicht

Bonn · Wer von radioaktiv verseuchten Lebensmitteln hört, der denkt an Fukushima. Manch einer bringt damit vielleicht auch Weißrussland oder die Ukraine in Verbindung.

Besonders was Pilze aus Osteuropa angeht, hat sich beinahe jeder schon einmal die Frage anhören dürfen, ob die gekauften Champignons denn im Dunkeln leuchten. Die Wolke von Tschernobyl kontaminierte auch hierzulande den Boden. In Bayern überprüfen mehrere Messzentren auch 30 Jahre nach der Havarie Wildtiere und Pilze auf Strahlung.

Während viele radioaktive Spaltprodukte, sogenannte Radionuklide, wegen ihrer kurzen Halbwertszeit - zum Beispiel Jod-131 - schon nach einigen Tagen nicht mehr nachzuweisen waren, blieb Cäsium-137. Seine Halbwertszeit: 30 Jahre. Es lagerte sich, nachdem es Anfang Mai 1986 aus einer Tschernobyl-Wolke über Bayern und Thüringen via Regen gewaschen worden war, im Boden oder in den Kronen der Bäume an. Damit sei in diesen Tagen "die erste Halbwertszeit um", sagt Christina Hacker, Vorstandsmitglied des Umweltinstituts München. "50 Prozent des Cäsiums sind zerfallen, was aber nicht bedeutet, dass sich die Strahlenbelastung halbiert", sagt Hacker. Diese gehe zwar kontinuierlich zurück, "aber Cäsium-137 lässt sich nach wie vor deutlich nachweisen - insbesondere in der drastischen Kategorie Wildschwein". Erst nach weiteren zehn Halbwertszeiten, also in 300 Jahren, habe sich das radioaktive Cäsium-137-Erbe dann vollständig verflüchtigt.

Die Lage ist insgesamt uneinheitlich und hängt davon ab, wo und über welchem Boden es damals geregnet hat. Ackerboden wird umgepflügt und enthält Tonminerale, an denen sich Cäsium-137 besonders gut anhaftet. Diese Bindung bedeutet, dass es nicht pflanzenverfügbar ist und nicht vom Acker in die Nahrung gelangt. "Das sieht bei Waldböden anders aus", sagt Anja Lutz, Pressesprecherin des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS). Dort wandert das Cäsium-137 nur sehr langsam in die unteren Bodenschichten.

Aber auch der Waldboden ist keine homogene Fläche. Wo es nach der Havarie regnete und wo nicht, entscheidet über die radioaktive Belastung an dieser und jener Stelle - meist bis heute. Lutz: "Stößt man auf einen Pilz mit hohen Becquerel-Werten, kann 50 Meter weiter einer wachsen, der gar nicht belastet ist." Deshalb habe das Erreichen der ersten Halbwertszeit "keinen praktischen Anwendungsnutzen".

"Jedes Schwarzwild wird gemessen", heißt es in der Zentrale der bayerischen Staatsforsten in Regensburg. "Was den Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilo überschreite, wird beseitigt und kommt gar nicht erst in den Handel." Neben der äußeren Strahlung, also Radioaktivität in der Luft, gibt es aber noch die innere Strahlenbelastung, wenn etwa radioaktiv belastete "Waldlebensmittel" verzehrt worden sind. Besondere Risikokandidaten bleiben Wildschweine und einige Pilzarten, ferner Heidelbeeren, Preiselbeeren, Moose, Flechten, Farne oder Sauerklee. Viele Waldpflanzen, die Nahrung wild lebender Tiere, beziehen ihre Nährstoffe aus der oberflächennahen Bodenschicht mit den höchsten Cäsiumkonzentrationen.

Warum sind Wildschweine besonders oft verstrahlt? Das liegt an einer sehr speziellen Nahrungskette, am sogenannten Hirschtrüffel. Diese - für Menschen ungenießbare - Pilzgattung wächst unterirdisch und reichert besonders viel Cäsium-137 an (etwa das Zehnfache normaler Speisepilze). Hirschtrüffel gelten als "Radionuklidsammler" und sind die Leibspeise der Wildschweine, die danach mit ihren kräftigen Rüsselschnauzen den Waldboden regelrecht umpflügen.

Der Ablauf der ersten Halbwertszeit in diesen Tagen ändert nichts im Organismus der Wildschweine. "Die Tiere sind eh schon belastet", sagt Monika Hotopp vom BfS. Kein Wildbret in Bayern mehr zu essen, wäre jedoch, so Hotopp, "Quatsch". So nimmt ein Mensch, der ein 400-Gramm-Wildschweinsteak mit 2000 Becquerel verspeist, nicht mehr Radioaktivität auf als ein Tourist durch natürliche Strahlung auf einem Flug von Deutschland zu den Kanaren.

Die bei den Wildschweinen gemessenen Werte zeigen auch einen Jahresgang. Wenn im Winter Förster und Jäger das Wild über schneebedeckten Böden mit unbelasteter Nahrung füttern, sinkt vorübergehend auch die Radioaktivität in der Wildsau. Der große Trend ist allerdings eindeutig: Wildschweine, bei denen die Messgeräte bis zu 10 000 Becquerel ausschlagen, werden in Südbayern, im Hochschwarzwald und in Thüringen seltener. Allmählich geht die Cäsium-137-Belastung im Waldboden zurück. Aber sie ist, 30 Jahre danach, immer noch da.

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