Die Sehnsucht nach Ritualen Was hinter Abiball und Junggesellenabschied steckt

Jeden Samstag ziehen albern kostümierte Gruppen durch die Innenstädte, um einen der ihren aus dem Stand der Ehelosigkeit zu verabschieden. Doch was steckt dahinter? Warum hält man noch heute an Klischees fest? Eine Analyse.

Jedes Jahr überschlagen sich junge Menschen bei der Organisation von Abi-Gag und Abi-Ball. Was das miteinander zu tun hat wissen die Volkskundler des LVR-Instituts in Bonn. Die Ehe sei „eine gegenseitige Freiheitsberaubung im beiderseitigen Einvernehmen“, behauptete Oscar Wilde. Der irische Schriftsteller wird bis heute gern zitiert, wenn es darum geht, geistreich und wortreich die Ehe als lebenslange Höchststrafe zu beschreiben.

Ergibt das im 21. Jahrhundert noch Sinn? Schließlich wird heute fast jede zweite Ehe nicht vom Tod, sondern vom Amtsrichter geschieden. Das Schuldprinzip wurde schon vor Jahrzehnten abgeschafft, die „Ehe für alle“ ist nun etabliert – und wir zitieren als Kronzeugen für die Fesseln dieser Lebensform einen Mann, der als Homosexueller im prüden viktorianischen Groß-britannien der Ordnung halber eine Ehe mit einer Frau führte und wegen „Unzucht“ mit Männern zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.

Vielleicht steckt der Sinn darin, dass wir Klischees lieben – und an ihnen festhalten, auch wenn die realen Grund-lagen der Klischees längst abhanden gekommen sind. Wie ließe sich sonst erklären, was sich Samstag für Samstag auf öffentlichen Straßen rheinischer Innenstädte abspielt: Beste Freunde und beste Freundinnen, sorgsam nach Geschlechtern getrennt und albern kostümiert wie zu furchtbarsten Ballermann-Zeiten, verabschieden einen oder eine der ihren auf möglichst infantile Weise aus dem Stand der Ehelosigkeit.

Vor allem in Köln kann man samstags bei sonnigem Wetter mitunter keinen Fuß mehr in die City setzen, ohne von einem fast verheirateten Teufelchen, das einen Bauchladen vor sich her trägt und von vorpubertär kichernden Gefährtinnen umringt wird, zum Kauf eines bonbon-farbenen Kondoms genötigt zu werden.

Die Frage nach dem Warum

Was um Himmels Willen bringt Menschen dazu, sich an einem symbolisch „letzten Tag in Freiheit“ öffentlich derart zum Narren zu machen?

„Eben weil hinter der Ehe heute ein so großes Fragezeichen steht“, sagt Andrea Graf. „Je krisenanfälliger sich eine gesellschaftliche Institution zeigt, desto größer ist das Bedürfnis der Menschen, sie durch Rituale zu stabilisieren.“ Andrea Graf weiß, wovon sie redet. Die wissenschaftliche Referentin am LVR-Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte in Bonn erforscht Phänomene des Alltags und arbeitet gerade an ihrer Doktorarbeit zum Thema „Junggesellenabschied“.

Grafs These bestätigt auch ihre Kollegin Gabriele Dafft, die sich intensiv mit dem Phänomen Abi-Gag und Abi-Ball beschäftigte – beides übrigens ist wie der öffentliche Junggesellenabschied erst gegen Ende der 90er hierzulande so richtig populär geworden. „Früher war das Abiturzeugnis der Persilschein für eine sorgenfreie berufliche Zukunft. Das ist vorbei.“

Der Abi-Gag (an manchen Schulen schon vom Ein-Tages-Ereignis zur opulenten Motto-Woche ausgebaut) und der Abi-Ball bilden also das letzte gemeinschaftliche Erlebnis in vertrauter Umgebung, bevor die ungewisse Zukunft, die zudem erstmals getrennt zu meistern ist, raue Gegenwart wird.

Eine anpassungswillige Generation

„Natürlich sind für diese Phänomene, wie auch für Halloween oder das gemeinsame Hütewerfen der Hochschulabsolventen, die USA Trendsetter“, sagt Volkskundlerin Gabriele Dafft. „Aber die Trends werden hier nicht eins zu eins übernommen. Zum Beispiel hat sich bei den hiesigen Abi-Bällen die ritualisierte Paarsuche, wie wir sie aus den USA kennen, nicht durchgesetzt.“

Nach der Protest-Generation der 60er und 70er Jahre (da ließ man sich das Abiturzeugnis auch schon mal gerne per Post schicken) und der Null-Bock-Generation der 80er Jahre beobachten die beiden Wissenschaftlerinnen der Abteilung Volkskunde am LVR-Institut seit geraumer Zeit eine leistungsbereite und anpassungswillige Generation, Kinder der modernen Event-Gesellschaft. Also müssen auch Abi-Gag und Abi-Ball höchst professionell und nahezu perfekt daherkommen – sozusagen „als Leistungsschau zum Zwecke der Selbstpräsentation und Image-Werbung“, sagt Forscherin Gabriele Dafft.

Das kann schon was kosten; in Einzelfällen, etwa beim Einschalten externer Dienstleister oder bei der Wahl einer besonders attraktiven externen Location, auch fünfstellige Summen, die erst mal durch originelle Aktionen aufgetrieben werden müssen. Schließlich gilt es im Sinne der verinnerlichten Wachstumsphilosophie darum, noch besser, noch spektakulärer, noch glamouröser zu sein als die Nachbarschule oder etwa die Vorjahres-Abiturientia, und schließlich ackert man nicht nur für die lokale Öffentlichkeit, sondern via Selfies und Internet für die weltweite Beachtung.

Was für ein Stress. Auch beim Organisieren eines Junggesellenabschieds unter Freunden. Nichts darf mehr dem Zufall überlassen sein. Schließlich geht es um den – ja eigentlich doch eben nicht um den „schönsten Tages des Lebens“, der kommt doch erst danach.

Von der Panzerfahrt bis zur Strip-Show

Da bieten inzwischen spezialisierte Event-Agenturen ihre Dienste und das Rundum-Sorglos-Paket für den perfekten Junggesellenabschied an, von der Panzerfahrt (eher was für die Herren) über die Wellness-Oase (eher was für die Damen) bis zur Strip-Show (sowohl als auch, da gibt's spezielle Angebote für Herren oder für Damen). Ansonsten aber hat Andrea Graf beobachtet, dass die sexuelle Komponente eine weit geringere Rolle spielt, als auf den ersten Blick vermutet werden könnte: „Fremdflirten in engen Grenzen, das inszenierte Spiel mit dem Feuer in der letzten Nacht in Freiheit – das war's aber auch schon.“

Auch für das Bedrucken gemeinsam zu tragender T-Shirts sehen sich die Event-Agenturen zuständig. „Erstaun-licherweise sind vor allem Texte und Motive gefragt, die tradierte Rollen-bilder spiegeln“, hat Graf festgestellt: „Bei den meisten T-Shirts, die von Frauen gekauft werden, geht es um den endlich gefundenen Märchenprinzen, während bei den gern von Männern nachgefragten T-Shirts die an den Fuß des Bräutigams gekettete Eisenkugel das baldige Ende der Freiheit spiegelt.“

Engländer buchen gerne Kurztouren ins Ausland, weil die Anonymität einer wildfremden Stadt (natürlich in Kombination mit im Vergleich zur Heimat oft preiswerterem Alkohol) das Verabschieden deutlich enthemmt. Hierzulande genügt (noch) mehrheitlich der Tagesausflug, etwa von Oedingen oder Oedekoven per ÖPNV nach Köln Hbf. und von dort zu Fuß zum Ring. Morgens geht's zeitig los, im Waggon wird schon mal vorgeglüht, Piccolöchen, Mut antrinken für die Mutproben in der Fußgängerzone, in der Nacht geht's (nach dem obligatorischen Disco-Besuch) wieder gemeinsam heim.

Polterabende werden seltener

„Köln ist als Ziel beliebt, weil das kommunikative, tolerante Klima der Stadt geschätzt wird“, sagt Andrea Graf. Im bayerischen Regensburg erließen Gastwirte kürzlich ein gemeinsames Manifest gegen Junggesellenabschiede.

Die Tradition des Polterabends sei hingegen immer seltener anzutreffen, stellen die Forscherinnen fest: „Ein Polterabend verlangt wegen des Lärms eine gewachsene und vertraute Nachbarschaft.“ Die sei aber aufgrund der geforderten beruflichen Mobilität und der zunehmenden Auflösung klassischer Lebensstrukturen (Vereinsleben, Verwandtschaft am selben Wohnort) immer seltener gegeben.

Außerdem, so hat sich Andrea Graf bei ihrer empirischen Untersuchung von Heiratswilligen berichten lassen, sei der klassische Polterabend, zu dem das Zerdeppern von Porzellan gehört, zunehmend pervertiert: „Da fahren Last-wagen vor und verwandeln Vorgärten in Mülldeponien. Und da haben immer weniger Brautpaare Lust drauf.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort