30 Jahre Tschernobyl Um 1.24 Uhr explodiert das Experiment

Tschernobyl · Heute ist die größte Nuklearkatastrophe in der Geschichte der Menschheit (fast) vergessen, aber nicht vergangen. Sie wirkt lautlos und unsichtbar und weiter in Raum und Zeit. Es ist auch eine Geschichte der Menschenverachtung, Vertuschung und Verharmlosung.

 Bergungsmannschaften sind nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Diese Aufnahme stammt aus dem Jahr 1986.

Bergungsmannschaften sind nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mit Aufräumarbeiten beschäftigt. Diese Aufnahme stammt aus dem Jahr 1986.

Am 28. April 1986, ein Montag, piepsen um 9 Uhr am Atomkraftwerk Forsmark, 100 Kilometer nördlich von Stockholm, die Geigerzähler: Radioaktivitätswerte, die fünf- bis sechsfach über normal liegen. 800 Arbeiter müssen das Kernkraftwerk sofort verlassen, Besucher ihre Schuhe zurücklassen. Dann erste Straßensperren. In Norrskedlia schlucken Kinder Jod-Tabletten. Was läuft schief am Forsmark-Reaktor? Auch andere Dosimeter schlagen Alarm, aber alle stehen bei Atomreaktoren. Bald auch SOS auf Gotland und in Finnland. Höhere Werte an der Ost- als an der Westküste. Das Militär sondiert die Lage. Ergebnis: Entwarnung für die eigenen Atommeiler. Die Interpretation des Windes zeigt nach Osten.

In Bonn, damals noch Bundeshauptstadt, wird in den Parteizentralen getuschelt: "Es ist etwas passiert." Irgendetwas Schlimmes irgendwo im Osten. Das World Wide Web existiert noch nicht und damit weder auch keine sozialen Medien. Der "Tagesschau"-Sprecher liest erst am Abend 28. April 1986 eine dürre Meldung der sowjetischen Nachrichtenagentur Tass vor, wonach es zu "einem Unfall in einem Kernkraftwerk" gekommen sei.

Der Eiserne Vorhang ist damals auch kommunikativ ein Bollwerk, aber machtlos gegenüber radioaktiven Wolken. Hinter dem Vorhang regieren die alten Verhaltensmuster, obwohl Michail Gorbatschow, der neue Generalsekretär der KPdSU, ein Jahr zuvor mehr "Glasnost" (Öffentlichkeit) gefordert hatte. Der Apparat kann sich wieder nur zu Halbwahrheiten durchringen und reagiert mit gewohnten Reflexen: Der Westen spinne "Erfindungen und Märchen" um Tschernobyl, die Parteijugend-Zeitung bezichtigt das "offizielle Bonn" einer "antisowjetischen Kampagne". Tatsächlich weiß zunächst selbst Moskau nicht, wie dramatisch die Situation in Tschernobyl ist.

Tschernobyl-Katastrophe vor 30 Jahren
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Bald dreht der Wind über Europa, und die Wolken ziehen mit ihrer strahlenden Fracht nach Süden. An manchen Orten regnet es - außer Tropfen auch unsichtbare Radioaktivität. Geigerzähler schlagen aus, auch private, womit der Staat sein Mess- und Deutungsmonopol verliert. Aus Tokio verkündet Kanzler Helmut Kohl eine "Informationskampagne gegen die Angst vor Kernkraftwerken". Sein Innenminister Friedrich Zimmermann sagt: "Obwohl wir über keine genauen Informationen verfügen, ist die Lage bei uns unter Kontrolle." Und wie: Jedes Bundesland empfiehlt den Bürgern etwas anderes. Einerseits herrscht offiziell "keine Gefahr", andererseits sollen Mütter ihre Kinder vorsichtshalber keine Frischmilch trinken lassen. Bald dürfen in Bayern keine Pilze mehr gegessen werden, und aus Milch gewonnene Molke wird radioaktiver Sondermüll. Am Ende steht das größte Kommunikationschaos in der Geschichte der Bundesrepublik.

"Alles unter Kontrolle"

Am 3. Mai 1986, ein Samstag, pilgern in und um Bonn Hunderttausende zu "Rhein in Flammen". Längst sind Jod-Tabletten ausverkauft. Offiziell ist "alles unter Kontrolle", aber die NRW-Regierung empfiehlt, Kleidung und Schuhe nach der Veranstaltung gründlich zu reinigen. Die Stadt Bonn rät vom Fußballspielen im Freien ab, Sandkästen sind Tabuzonen. Dietmar Strehl, späterer Bundesschatzmeister der Grünen und damals in Bonn lebend, erinnert sich: "Es war tatsächlich so: Die Rot-Kreuz-Helfer und Feuerwehrleute beim Fest wurden gewarnt und die bis zu eine Million Besucher waren dem Regen und damit dem radioaktiven Niederschlag ausgeliefert. Danach wurden wir alle Fachleute von Becquerel."

Was war im fernen Osten passiert? Das später Stück für Stück rekonstruierte Geschehen handelt von einem Testlauf in Tschernobyl in der Ukraine, damals noch Teil der Sowjetunion, der als nuklearer Maximal-Unfall (Super-GAU) endet. Das Experiment beginnt am 25. April 1986 um 23.50 Uhr. An Reaktor 4 sollen Techniker testen, was passiert, wenn der Strom ausfällt und die Notstromaggregate anspringen. Spenden die auslaufenden Turbogeneratoren in einer 50-Sekunden-Übergangsphase noch so viel Energie, dass die Kühlpumpen weiterlaufen können?

26. April 1986, 0.28 Uhr: Die Reaktorleistung fällt extrem ab - auf unter sieben Prozent. Das Versuchsprogramm schreibt jedoch mindestens 20 Prozent vor. Um 1.23 Uhr läuft das Experiment läuft aus dem Ruder. Aber Chefingenieur Anatoli Strepanowitsch Djatkow befiehlt "weitermachen". Bald bricht das Kühlsystem zusammen, was die atomaren Kettenreaktionen im Reaktor beschleunigt und die Temperatur in die Höhe treibt.

Krebsauslösende Radionuklide

1.24 Uhr: Das Kühlwasser verdampft immer schneller, binnen Millisekunden erreicht der Reaktor das Hundertfache seiner normalen Leistung. Der unvorstellbare Druck in seinem Innern lässt Rohre platzen, dann sprengt eine Explosion die 3000 Tonnen schwere Abdeckplatte des Reaktorkerns in die Luft und damit tonnenweise radioaktives Material. Es steigt rund 1700 Meter hoch, und die Winde transportieren die Partikel weiter. Darunter Jod-131, Cäsium-137, Plutonium-239, Strontium-90 - das gesamte Gruselkabinett potenziell krebsauslösender Radionuklide.

Um 1.30 Uhr schlafen die Menschen in Europa, während der Reaktor bereits ohne Dach da steht und aus seinem Schlund rund 400 Mal mehr als die nukleare Masse der Hiroshima-Bombe bläst. Verzweifelte Feuerwehrleute versuchen, den Reaktorbrand zu löschen, während verwegene Piloten im Helikopter aufsteigen und tonnenweise Sand und Blei ins Höllenfeuer werfen. Die Kämpfer der ersten Stunde erhalten meist tödliche Strahlungsdosen. Einige sterben sofort. Ihre strahlenden Leichen kommen in Bleisärgen unter die Erde.

40-Sekunden-Einsätze mit lebenslangen Folgen

Erst 30 Stunden nach der Explosion und dem ersten radioaktiven Fallout fahren etwa 1200 Busse in Prypjat ein: 48.000 Einwohner, fünf Kilometer vom glühenden Inferno entfernt. Alle müssen sofort jene Stadt verlassen, die erst 1970 für die Kraftwerksarbeiter erbaut worden war. In den Straßen wird schaumige Seife versprüht. Kein Bürger Prypjats weiß, warum er sofort einsteigen muss und nichts mitnehmen darf. Keiner ahnt, dass er nie mehr zurückkehren darf. Prypjat ist, auch 30 Jahre danach, eine Geisterstadt und wird es nach menschlichem Zeitmaßstab auf ewig bleiben.

Nach sieben Tagen: Um den 1. Mai 1986 wächst die Dramatik am weiter brennenden Reaktor. Es braut sich eine Katastrophe in der Katastrophe zusammen: Das viele Löschwasser droht mit dem schmelzenden Reaktorkern zusammenzutreffen und damit eine Explosion mit weitreichenderen Folgen als die erste auszulösen. Für die Ukraine, für die Sowjetunion, für ganz Europa. Die Tschernobyl-Leitung sucht Menschen, die durch die radioaktive Extrembrühe tauchen und irgendwo einen Stöpsel ziehen, damit das Löschwasser abfließen kann. Auch wenn die Taucher lebend zurückkehren würden, wären sie - völlig verstrahlt - dem Tod geweiht. Bald ist ein Selbstmord-Kommando gefunden. Die Kamikaze-Mission endet erfolgreich.

Eine Urkunde und 100 Rubel

Aber der Reaktor brennt weiter. Moskau schickt Heerscharen Ahnungsloser. Meist Wehrpflichtige um die 20, die aus allen Teilen des Riesenlandes zwangsrekrutiert und teilweise vom damaligen Krieg in Afghanistan abgezogen werden. Es heißt, es seien mindestens 400.000, maximal 900.000 gewesen. Jahre später heißt es 830.000. Doch Zahlen und Tschernobyl bilden in jeder Hinsicht eine ungenaue Beziehung. Der als "Tschernobyl-Fotograf" bekannt gewordene Igor Kostin berichtet 2011: "Die Liquidatoren durften wegen der hohen Strahlung nur für 40 Sekunden aufs Dach, warfen eine Schaufel Schutt hinunter und kamen wieder zurückgerannt. Sie bekamen eine Urkunde und 100 Rubel und wurden weggeschickt." Dahinter steckte Kalkül. So verlieren sich später Hunderttausende Strahlenschicksale im statistischen Nirgendwo. Später werden die Männer als "Helden der Sowjetunion" geehrt, aber auch als "Bioroboter" bezeichnet. Eigentlich sollten echte Roboter das Strahlungsinferno eindämmen, doch die blieben in geschmolzenen Teerschichten stecken, oder die harte Gammastrahlung zerstörte ihre Elektronik.

Endlich, nach zehn Tagen und 1800 Helikopter-Ladungen Sand und Blei, ist das Höllenfeuer besiegt, die tickende Zeitbombe aber nicht entschärft - auch nicht, nachdem der zerborstene Reaktor unter meterdickem Stahlbeton beerdigt ist. 30 Jahre soll dieser Sarkophag halten, doch schon 2013 stürzten einige Teile ein.

Als die radioaktiven Wolken über Europa wehen, weiß niemand Genaues über ihren Inhalt. Der Kreml schweigt, und wenn er nicht schweigt, beschönigt er. "Das gefährlichste Element, das der Reaktor ausgekotzt hat, fehlt in der Periodentafel der Elemente: Lüge-86" - schreibt die ukrainische Journalistin Alla Jarošinskaja, die 1998 als eine von 100 Heldinnen des 20. Jahrhunderts ausgezeichnet wird. Die Trägerin des Alternativen Nobelpreises (1992) und 1989 in den Obersten Sowjet gewählte Abgeordnete hat die Schrift "Lüge-86 - Die geheimen Tschernobyl-Dokumente" verfasst. Jarošinskaja: "Wider besseres Wissen verharmloste die Staatsführung das Ausmaß der Kontamination, schickte Menschen in verstrahlte Gebiete zurück, brachte belastete Nahrungsmittel in Umlauf und bot dem Ausland ein beschönigtes Bild des Geschehens."

Als Abgeordnete hatte Jarošinskaja Zugang zu den Dokumenten, etwa zu jenem, das das Gesundheitsministerium der UdSSR am 27. Juni 1986 verfasst hatte. Eines heißt "Über die verschärfte Geheimhaltung bei der Ausführung der Arbeiten an der Beseitigung der Folgen der Havarie im AKW Tschernobyl". Danach sind "Informationen geheimzuhalten" über den Unfall an sich, "über medizinische Behandlungsergebnisse, über den Grad der radioaktiven Verseuchung des an der Beseitigung der Folgen beteiligten Personals". Es sind Dokumente der Menschenverachtung, die konkret beschreiben, wie Grenzwerte willkürlich hochgesetzt wurden, um Menschen für gesund erklären, in verstrahlte Gebiete zurücksiedeln oder Milch und Fleisch zum Verzehr freigeben zu können. So wurden etwa 40.000 Tonnen radioaktiv verseuchtes Fleisch "in zehnfacher Verdünnung" unters Volk gebracht. Den Auftrag dazu hatte das Gesundheitsministerium schon am 8. Mai 1986 erteilt: "Eine maximale Verteilung des kontaminierten Fleisches über das ganze Land und die Verarbeitung dieses Fleisches in Wurstprodukten, Konserven und Halbfertigprodukten in einem Verhältnis von 1:10 zu normalem Fleisch." Historiker werden später Tschernobyl als "den Anfang vom Ende der Sowjetunion" bezeichnen.

"Don Quichote von Tschernobyl"

Der Zerfall der alten Diktatur begünstigte bald mehr freies Reden und Denken. Auch über Tschernobyl. Forscher in Weißrussland glauben, dass Gesellschaft und Politik sich nicht vorstellen können, was es bedeutet, dass etwa Plutonium-239, ein Teil des Tschernobyl-Fallouts, erst nach 24.000 Jahren seine erste Halbwertszeit erreicht und Hunderttausende Jahre strahlt. "Eine solche Technologie hat keine Berechtigung", sagte Professor Wassily Nesterenko, einst Leiter des Instituts für Kernphysik in Kiew.

Die Menschen nannten ihn "Don Quichote von Tschernobyl", weil er jahrelang gegen das Siechtum der verstrahlten Kinder kämpfte. Vor seinem Tod 2008 sprach Nesterenko von einem "demographischen Schwert" für Weißrussland: "In Tschernobyl-Regionen werden auf 1000 Menschen sieben Menschen geboren, aber 14 sterben. Früher betrug die Lebensdauer bei Männern 72 Jahre, jetzt 55 Jahre."

Und die Täter? Kein Techniker war eingeschlafen, kein Ingenieur hatte einen falschen Knopf gedrückt. Aber die Befehlsstruktur einer Diktatur hatte offene Debatten über Risiken verhindert. Kraftwerksingenieur Grigori Medwedew, Mitglied der Regierungskommission, die das Unglück untersuchte, kritisierte "Konformismus und Denkfaulheit" beim handelnden Personal, dazu unzureichende Kompetenz. Man sprach vom "Homo Sovieticus": devot gegenüber Führung und Vorschriften und ohne individuelle Verantwortung und Eigeninitiative.

Dann 1987 der Prozess: Anatoli Strepanowitsch Djatkow bekennt sich schuldig für das "kriminelle Leiten eines potenziell explosionsgefährlichen Versuchs". Djatlow wird zu zehn Jahren Haft verurteilt. Ein Täter, ein Fehler, eine Havarie? Beobachter sehen in ihm eher einen Sündenbock des Systems, der sich unfreiwillig "schuldig" bekannte. Er sitzt fünf Jahre ab. Ob er 1995 strahlenbedingt oder an einem Herzinfarkt starb, ist bis heute offen.

Das Dilemma: Einem Tumor sieht man dessen Ursache nicht an

Djatkow nutzt die Zeit bis zu seinem Tod und schreibt ein Buch: "Tschernobyl. How it was" (Wie es war). Botschaft: Nicht das Personal sei schuld gewesen, sondern die Konstruktion des Reaktors. Dafür spricht, dass bereits 1983 ein ähnliches Experiment bei einem Tschernobyl-Reaktortyp in Litauen zu einer kritischen Situation geführt hatte. Moskau hielt den Erfahrungsbericht jedoch unter Verschluss; das Tschernobyl-Personal sollte nicht durch Zweifel an der eigenen Technik verunsichert werden.

Professor Vladimir Tschernousenko, einer der drei Chef-Liquidatoren, hatte sich bald in den Westen abgesetzt. Er hält die angeblichen Fehler des Personals für "Mythen", um die Sicherheitsmängel an sich zu verschleiern. Denn in Tschernobyl sei nicht nur Strom, sondern auch waffenfähiges Plutonium erzeugt und deshalb eine riskante Graphit-Konstruktion gewählt worden. Tschernousenko starb 1996 an den Spätfolgen einer Strahlenüberdosis.

So wenig, wie die Täterfrage überzeugend aufgeklärt wurde, existiert eine objektive Zentralstatistik zu den Opfern: Über Menschen, die sofort starben, etwa an der akuten Strahlungskrankheit, und über jene, die erst sehr viel später an Krebs erkrankten. Der Konflikt darüber tobt bis heute. Es gibt die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) zur Förderung der zivilen Nutzung der Kernkraft und die UN-Weltgesundheitsorganisation (WHO) sowie eine über 55 Jahre alte WHO-IAEO-Vereinbarung, wonach bei allen Radioaktivitätsfragen die IAEO die Federführung hat. Gemeinsam mit Regierungsinstitutionen Russlands, Weißrusslands und der Ukraine bilden WHO und IAEO das Tschernobyl-Forum. Demnach waren nur rund 50 Menschen an den Folgen gestorben und rund 4000 würden möglicherweise an den Spätfolgen sterben. 2006 wird die Gesamtzahl auf rund 9000 korrigiert. Fünf Jahre später gelangt ein Protokoll in die Öffentlichkeit, in dem die WHO-Chefin Margaret Chan zitiert wird: "Ich persönlich glaube nicht, dass der Nuklearunfall in Tschernobyl nur 50 Todesopfer gefordert hat."

Die Zahlen des Tschernobyl-Forums werden von der anderen - atomkritischen - Seite als Provokation empfunden. Dazu gehören etwa die Vereinigung Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), der britische Torch-Report (The Other Report on Chernobyl) oder die Gesellschaft für Strahlenschutz. Die IPPNW meldete Anfang 2016 unter Berufung auf verschiedene Studien, dass bis 2005 allein bis zu 125.000 Liquidatoren gestorben seien. Der letzte Torch-Report geht von weiteren 40.000 tschernobylbedingten Krebstoten in Europa bis 2056 aus. Und Alexej Jablokow, einst Berater des russischen Präsidenten Boris Jelzin, berichtet, dass die Sterblichkeit in den verstrahlten und weiter bewohnten Gebieten um vier Prozent gestiegen sei. Berücksichtige man alle vom Tschernobyl-Fallout betroffenen Regionen Europas, werde die Havarie langfristig 1,44 Millionen Tote verursachen.

Schätzwerte statt verlässliche Zahlen: Zu viele Institutionen sind im ewigen Streit ums Atom interessiert, mit Zahlen Politik zu machen. Doch es existiert auch das grundsätzliche Dilemma, dass ein Tumor nicht preisgibt, wodurch er entstanden ist. Deshalb könnte auch Oleg Kriwolapows Vorhersage ins Leere laufen. Der russische Genetiker hatte gesagt, erst in 100 Jahren könne man wissen, "ob sich durch Tschernobyl wirklich etwas verändert hat".

Keine Beweise

Beispiel Österreich: Insgesamt 37 Prozent des Tschernobyl-Fallouts fielen auf das westliche Europa. Die Alpenrepublik war mit 13 Prozent ihrer Fläche am zweitstärksten betroffen. 1986 (vor der Havarie) zählte man 316 Schilddrüsenkrebs-Fälle, 2008 waren es 884. Ein Beweis, dass Tschernobyl dahinter steckt, ist das nicht.

Im Jahr 2011 erlebt die Welt in Fukushima im realen nuklearen Alltag, was 25 Jahre zuvor das Tschernobyl-Experiment erkunden sollte: die Folgen eines Stromausfalls. In Japan hatte ein Tsunami sogar die Notstromaggregate zerstört. Auch Fukushima hinterlässt ein strahlendes Erbe für die Ewigkeit, nur wehten die Winde 2011 günstiger - nämlich Richtung Pazifik.

Unterdessen wirkt Tschernobyl lautlos weiter in Raum und Zeit; sei es in Österreich, im Organismus einer bayerischen Wildsau oder bei jenen fünf Millionen Menschen, die in Weißrussland und der Ukraine in kontaminierter Umgebung leben. Dabei entpuppt sich der Klimawandel als Katastrophen-Vergrößerer: Trockenere Sommer und mehr Waldbrände in der Ukraine. So wird der abgelagerte radioaktive Staub mit jedem Feuer neu aufgewirbelt und umverteilt.

Der 30. Tschernobyl-Gedenktag ist in diesen Tagen auch Thema in viele TV-Dokumentationen. Die Bilder von damals zeigen Liquidatoren, die wie mittelalterliche Krieger aussehen. Vermummt und mit Leder-Blei-Schürzen schaufeln sie glühende Graphitbrocken zurück in Reaktor 4. Auch die Kameramänner von einst leben nicht mehr.

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