Initiative fordert Frühwarnsystem Tausende Kinder werden in Deutschland vermisst gemeldet

Bonn/Hamburg · Es ist der Alptraum aller Eltern: Jährlich verschwinden in Deutschland Tausende Kinder und werden als vermisst gemeldet. In den meisten Fällen tauchen sie wohlbehalten wieder auf. Doch nicht jeder Fall geht glimpflich aus.

 Ayla (l) und Kamil Ercan zeigen 1999 in ihrer Wohnung im Hamburger Stadtteil Lurup ein Foto ihrer verschwundenen Tochter Hilal Ercan. Das Mädchen wird bis heute vermisst.

Ayla (l) und Kamil Ercan zeigen 1999 in ihrer Wohnung im Hamburger Stadtteil Lurup ein Foto ihrer verschwundenen Tochter Hilal Ercan. Das Mädchen wird bis heute vermisst.

Foto: dpa

Tausende Kinder werden in Deutschland jährlich bei der Polizei als vermisst registriert. Daran erinnert am 25. Mai der Tag der vermissten Kinder. Die meisten Kinder tauchen wieder wohlbehalten auf. Doch bleiben sie für immer verschwunden oder werden Opfer eines Verbrechens, bleiben die Angehörigen oft traumatisiert zurück.

In das Gedächtnis vieler Menschen in Deutschland haben sich Namen wie Hilal, Inga und Aref gebrannt. Seit Jahren sind die Kinder wie vom Erdboden verschluckt: Die damals zehnjährige Hilal Ercan verschwindet 1999 in der unmittelbaren Nähe der elterlichen Wohnung in Hamburg-Lurup. Vor mehr als drei Jahren verliert sich die Spur der fünfjährigen Inga in einem Waldstück bei Stendal (Sachsen-Anhalt). Und Aref, damals vier Jahre alt, wird seit April 2016 vermisst, nachdem er seiner Mutter auf einem Spielplatz in Eschwege aus den Augen geriet.

Nach Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) werden täglich 200 bis 300 Kinder in Deutschland als vermisst gemeldet. Der Hamburger Verein "Initiative Vermisste Kinder" spricht von mehr als 60.000 Kindern und Jugendlichen, die jedes Jahr in Deutschland verschwinden. Diese hohe Zahl relativiert sich allerdings schnell, denn die meisten Kinder tauchen wenig später wieder auf. Meist handele es sich um Kinder und Jugendliche, die wegen Problemen im Elternhaus oder in der Schule weggelaufen seien. Auch ein illegaler Kindesentzug eines der Elternteile könne ein Grund sein.

Die Zahl der dauerhaft Vermissten zu beziffern, gestaltet sich allerdings schwierig. Das BKA führt hierzu keine Statistik und erhebt die aktuellen Vermisstenzahlen jeweils zum Anfang eines Quartals. So zählt das BKA am 1. Januar dieses Jahres 1961 vermisste Kinder bis 13 Jahre und 6287 zwischen 14 und 17 Jahre und damit rund 8250 Kinder insgesamt. "Die Zahl beinhaltet aber sowohl aktuelle Fälle, die sich innerhalb einiger Tage aufklären als auch Fälle, die bis zu 30 Jahre zurückliegen", sagt eine Sprecherin auf Nachfrage. 95,8 Prozent aller Vermisstenfälle können laut BKA aufgeklärt werden.

Kinder verschwinden auch in Bonn und der Region nahezu täglich

Auch in Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis werden immer wieder Kinder als vermisst gemeldet. Aktuelle Fälle gibt es laut Polizei jedoch nicht. Der Polizeisprecher für den Rhein-Sieg-Kreis Burkhard Rick zählt 226 Vermisstenfälle mit Kindern für das Jahr 2017. In diesem Jahr seien es bislang 27 Fälle. Auch hier seien es zum großen Teil Kinder, die von Zuhause oder einer Betreuungseinrichtung ausgebüchst sind. "Hin und wieder verlassen auch Kinder selbständig kurzzeitig das Elternhaus wegen persönlicher oder familiärer Probleme und halten sich bei Verwandten oder Bekannten auf", so Rick. Meist kehrten diese selbstständig wieder zurück und zählten dann ebenfalls als Vermisstenfälle.

Sein Bonner Amtskollege Robert Scholten äußert sich vorsichtig zu konkreten Zahlen. Die Zahl vermisster Kinder werde nicht separat erfasst. Es würden aber nahezu täglich Kinder aus Heimen als vermisst gemeldet, darunter auch welche, die mehrfach vermisst werden, weil sie immer wieder ausbüxen. Doch die Polizei müsse jeden Fall prüfen und die Sorgen und Ängste der Eltern Ernst nehmen. "Gott sei Dank tauchen vermisste Kinder in den allermeisten Fällen wohlbehalten wieder auf", sagt Scholten. Für die Bevölkerung im allgemeinen und Eltern im besonderen nähre sich die Angst vor dem Verschwinden eines Kinder aus Berichten, in denen das Verschwinden ein trauriges Ende nimmt. So ein Fall sei etwa das Verschwinden der 14-jährigen Hannah vor zehn Jahren. Das Mädchen aus Königswinter wurde Opfer eines Sexualmordes, der Täter zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Leiche Hannahs wurde fünf Tage nach dem Verschwinden des Mädchens gefunden.

Mindestens genauso schlimm sei es häufig, wenn der Verbleib des Kindes ungeklärt bleibt, sagt Lars Bruhns von der Hamburger Initiative Vermisste Kinder. "Das Leben mit der Ungewissheit zieht sich durch den Alltag der Eltern", sagt er. Der Politikberater fordert für Deutschland ein Alarmsystem für akute Vermisstenfälle, das es bereits in Ländern wie den Niederlanden, Polen und Großbritannien gibt und das die Bevölkerung etwa per SMS benachrichtigt. „In den Niederlanden können 12 Millionen der 17 Millionen Einwohner dadurch innerhalb von 15 Minuten erreicht werden“, sagt Bruhns. Laut BKA sei ein solches Warnsystem derzeit aber nicht geplant.

Wird ein Kind Opfer eines Gewaltverbrechens, sei der Faktor Zeit aber entscheidend, warnt Bruhns. Laut einer Studie des US-Bundesstaates Washington, bei der Kindesentführungen mit tödlichem Ausgang untersucht wurden, sind die ersten drei Stunden nach der Tat ausschlaggebend. 76 Prozent der Kinder, die Opfer eines Gewaltverbrechens wurden, überlebten diese Zeit nicht. 88 Prozent dieser Kinder wurden innerhalb der ersten 24 Stunden getötet. „Daher ist es wichtig, einen großen Teil der Bevölkerung in möglichst kurzer Zeit zu informieren“, sagt Bruhns.

Der Tag der vermissten Kinder wurde 1983 vom damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan ins Leben gerufen, nachdem vier Jahre zuvor der sechsjährige Etan Patz in New York spurlos verschwand. Er wird immer am 25. Mai begangen.

(Mit Material von dpa)

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