Kanzelrede in der Kreuzkirche Vom Richten und von der Kritik

Bonn · Die Reihe hat Tradition: In Zusammenarbeit mit dem Evangelischen Forum und dem Evangelischen Kirchenkreis Bonn veranstaltet die Kreuzkirchengemeinde seit 15 Jahren eine Reihe unter dem Titel "Kanzelreden".

 Wer zum Beispiel über eine Inszenierung von Shakespeares Drama „Der Sturm“ eine Besprechung verfasst, sollte das Werk des Dramatikers nicht nur vom Hörensagen kennen. Eine Szene aus der Bonner Produktion.

Wer zum Beispiel über eine Inszenierung von Shakespeares Drama „Der Sturm“ eine Besprechung verfasst, sollte das Werk des Dramatikers nicht nur vom Hörensagen kennen. Eine Szene aus der Bonner Produktion.

Foto: Thilo Beu

Menschen aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens werden gebeten, einen Bibeltext ihrer Wahl aus ihrer persönlichen Perspektive zu beleuchten. Am Sonntag, 12. März,hat Dietmar Kanthak, stellvertretender Chefredakteur und Leiter der Feuilletonredaktion des General-Anzeigers, über das Thema "Vom Richten und von der Kritik" gesprochen. Im Folgenden dokumentieren wir den Redentext.

Es ist mir nicht schwergefallen, in der Bibel einen Ausgangspunkt für meine Überlegungen zu finden. Ich wusste, wonach ich suchte. Es sollte mit mir und meinem Beruf zu tun haben. Im Evangelium nach Matthäus heißt es in der Passage „Vom Richten“ (7,1-5): „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? (...) Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.“

Die Botschaft dieser Zeilen ist unmissverständlich. Sie appellieren unter anderem an uns, maßvoll und ausgewogen im Urteil zu sein, selbstkritisch überdies, rücksichtsvoll, demütig und voller Einsicht in unsere eigene Unzulänglichkeit. Niemand soll sich anmaßend über andere erheben, sonst wird er was erleben. Das Thema Nächstenliebe schwingt mit. Ich möchte diesen Gedanken auf zwei Gegenstände anwenden, mit denen ich seit vielen Jahren täglich beschäftigt bin. Zum einen die Kritik, das Urteilen, ja „Richten“ über Kunst, über Literatur, Theater und Film. Zum anderen die Debattenkultur, die Art und Weise, in der öffentliche Diskussionen in Deutschland gepflegt werden.

Unumstritten ist nur das Mittelmaß

Dabei muss ich beim Thema Kritik etwas vorausschicken, was Matthäus nicht gefallen würde. Wenn ich, meiner eigenen Unzulänglichkeit bewusst, maßvoll, ausgewogen und demütig über Bücher, Aufführungen, Konzerte und Filme geschrieben hätte, stünde ich nicht hier. Mit diesen sympathischen Qualitäten kommt man als Kritiker nicht weit. Ich muss Ihnen sagen: Die Methode Matthäus funktioniert nicht in meinem Job. Denn was will eine Kritik? Sie will bewegen, Wirkung entfalten, dazu gehören nun einmal – in der Lobrede wie im Verriss - die Mittel von Zuspitzung, Übertreibung und Vereinfachung. Emotionen, Temperament und Leidenschaft kommen ins Spiel. Manchmal darf es auch boshaft und polemisch werden. An dieser Stelle wird es problematisch, wenn ich an Matthäus‘ kluge Worte denke. Kritiker müssen reflektieren, aber sie dürfen auch explodieren. Mut und eine gewisse Rücksichtslosigkeit gehören dabei zum Handwerkszeug. Damit macht man sich natürlich angreifbar, und das ist gut so. Unumstritten ist nur das Mittelmaß.

Klingt das kaltherzig, arrogant und egozentrisch? Seien Sie versichert, ich kenne meine Grenzen. Der Autor und Journalist Ludwig Börne, der von 1786 bis 1837 lebte, hat ewiggültige Worte über unsereinen gefunden: „In Deutschland schreibt jeder, der die Hand zu nichts anderem gebraucht, und wer nicht schreiben kann, rezensiert.“ Touché: Ich bin ein Rezensent. Und zwar einer, der die bisweilen schmerzhaften Folgen seiner Arbeit kennt. Ich möchte das an einem konkreten Beispiel verdeutlichen. Es handelt sich um einen alten Fall, alle Tränen sind getrocknet, alle Wunden verheilt. Am 24. November 1990 ist im General-Anzeiger eine Theaterkritik von mit erschienen. Anlass war die Premiere des Stückes „Purpurstaub“ des irischen Autors Sean O’Casey. In d em 1940 entstandenen und 1945 uraufgeführten Drama, das nicht zu O’Caseys besten gehört, erzählt der Autor von den beiden neureichen Engländern Poges und Stoke, die in Irland ein verfallenes Tudor-Landhaus kaufen und damit – glauben sie – eine neue Existenz. Sie träumen vom Glanz vergangener Zeiten und vom Leben in der Natur. Doch die Natur lässt sich in Irland ebenso wenig kaufen wie die Liebe der hübschen Damen Souhaun und Avril. Die Konflikte sind programmiert.

Der Regisseur Volker Hesse machte daraus einen riesigen Klamauk. Und er ging mit seiner Inszenierung baden. So weit, so gut. Ein Verriss war die korrekte Antwort auf das szenische Tohuwabohu; auf der Bühne muhte sogar eine echte Kuh und gackerte ein Huhn. Jetzt kommt die eben angesprochene Rücksichtslosigkeit ins Spiel. Beispiele aus der Kritik. Sie begann sozusagen mit einem Seufzer. Zitat: „So viel Guinness kann man gar nicht trinken, um diesen Abend zu vergessen.“ Der Spielleiter Volker Hesse komme der irischen Komödie vor allem mit einem Regieinstrument bei: dem Vorschlaghammer der Klamotte. Das kann man in einer seriösen Besprechung sagen. Die Schauspieler Günter Lampe und Michael Prelle, hieß es weiter, „müssen jeden gelernten Schmierenkomödianten vor Neid erblassen lassen“. Das war ein Satz, für den ich mich heute noch schäme, denn Lampe und Prelle, die ich verehrt habe, konnten an diesem Abend nur so gut sein, wie die Inszenierung es zuließ.

Es war ein peinlicher Augenblick

Schauspieler können sich gegen schlechte Besprechungen nicht wehren, sie müssen sie erleiden. Viele von ihnen sagen, sie lesen keine Kritiken. Das ist meistens gelogen. Die Kritik zu „Purpurstaub“ erschien an einem Samstag. Vormittags ging ich einkaufen im Stüssgen in der Weberstraße. Ich schob meinen Wagen durch die Gänge und begegnete – dem Schauspieler Michael Prelle. Er wohnte damals in der Goethestraße. Wir blickten uns kurz an und schauten dann schnell weg. Es war ein peinlicher Augenblick. Prelle hatte offenbar die Kritik gelesen. Seinen verletzten und niedergeschlagenen Ausdruck werde ich nie vergessen. Prelle, mit dem ich später gut bekannt war, hätte in diesem Moment bestimmt Oscar Wilde applaudiert, der einmal festgestellt hat: „In alten Zeiten gab es die Folter. Heute hat man die Presse.“

Nach November 1990 bin ich vielleicht kein besserer Mensch, aber ein, hoffe ich, besserer Kritiker geworden. Einer, der bei aller Deutlichkeit stets auch die Würde des Gegenübers – Regisseur, Schauspieler – nicht antastet. Man will ihnen auch nach einem Verriss guten Gewissens ins Auge blicken können. Nennen wir es den Matthäus-Effekt.

Wie gesagt, Künstler können sich nicht wehren, jedenfalls nicht offensiv. Oder etwa doch? Von Goethe ist eine Empfehlung überliefert, die mir in ihrer Zielrichtung übertrieben erscheint: „Schlagt ihn tot, den Hund. Es ist ein Rezensent.“ Es ist ein Rezensent. Goethe gönnte dem Rezensenten nicht einmal das Geschlecht. Auch Goethes österreichischer Kollege Arthur Schnitzler litt unter ungünstigen Kritiken. Er sah es so: „Nullen – man mag sich mit ihnen abfinden, es gibt so viele. Aber eine Null und frech dazu, das ist der Rezensent.“ Das ist schon in Ordnung. Wie heißt es bei Matthäus: „Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden.“

Welche sind die Maßstäbe der Kritik?

Apropos Maß. Welche sind die Maßstäbe der Kritik? Woher nimmt sie das Recht, zu urteilen und zu richten? Wo, fragte der große Berliner Theaterkritiker Friedrich Luft, wo ist ein Ausweis für das Privileg eines Rezensenten, zu rezensieren. Luft: „Wie kommt er dazu, gerade er? Welcher Bildungsgang, welche Laufbahn, welche Karriere hat ihn – gerade ihn! – besonders ausgestattet, dieses Amt auszuüben vor allen anderen? Meine Antwort ist: keine!“ Das Fazit des bis ins hohe Alter aktiven Luft: „Für diesen Beruf (und vielleicht ist er deshalb gerade so schön, so einzigartig und so begehrenswert), für diesen Beruf gibt es keine genau zu bezeichnende Karriere oder Vorbildung.“

Na ja, man sollte schon wissen, worüber man schreibt. Wer zum Beispiel über eine Inszenierung von Shakespeares Drama „Der Sturm“ eine Besprechung verfasst, sollte das Werk des Dramatikers nicht nur vom Hörensagen kennen. Bildung ist das Fundament der Kritik. Dazu kommen einige praktische Anforderungen. Kritiker müssen informieren, und zwar nicht nur einen Kreis von Eingeweihten und Fachleuten. Wir wenden uns an ein Lesepublikum mit ganz unterschiedlichen Voraussetzungen. Nicht nur Friedrich Luft wollte sie alle ansprechen: den, wie er sagte, lieben Schreiner und den guten Gemüsehändler, den Privatdozenten und den Studienrat.

Kritiker müssen beschreiben und erklären können, eine plausible Antwort finden auf die Frage „Was will uns der Dichter hier sagen?“. Man kann es auch anspruchsvoller ausdrücken. Goethe hat drei berühmte Fragen formuliert: „Was hat sich der Autor vorgesetzt? Ist dieser Vorsatz vernünftig und verständig? Und inwiefern ist es gelungen, ihn auszuführen?“ Diese Kriterien sind immer noch brauchbar, wobei es seit Goethe nicht leichter geworden ist, zu beurteilen, was vernünftig und verständig sei. Weiter. Die Regie und ihre Absichten wollen behandelt werden sowie die Kunst (oder auch nicht) der Schauspieler. Am Ende folgt das Urteil: eine Liebeserklärung oder eine Philippika. Wir haben die Wahl: die Götter zu ehren oder Speere zu werfen.

Der Verriss, der häufig das größte Lesevergnügen bereitet, ist letztlich die Enttäuschung eines Liebenden. Das möchte ich unbedingt hervorheben: Ohne die Liebe des Kritikers zur Kunst ist alles nichts. Das hat keiner so schön dargestellt wie der wunderbar zitierbare Friedrich Luft: „Nur der Liebende darf rügen. Nur der wahrhaft und kühl Besessene darf außer sich geraten, wenn er auf der Szene den faulen Trott der Routine sich breitmachen sieht.“ Da allerdings sei er, der Kritiker, unerbittlich, da schlage er zu, empfahl Luft vor rund 60 Jahren in einem Vortrag über das Wesen der Kritik.

Leser wollen unterhalten werden

Und warum die Subjektivität? Sie sind schuld, die Leser. Sie wollen doch unterhalten werden. Dafür muss sich die Individualität des Kritikers ins Zeug werfen. Vieles kommt da zusammen: Geschmack, Seelenlage, Nähe oder Distanz sowie, ganz wichtig, eine Haltung. Fassen wir zusammen: Die Theaterkritik hat als Adressaten ein nicht spezialisiertes Publikum, das mit sachlichen Informationen und begründeten Meinungen versorgt und mit subjektiven Temperamentsausbrüchen konfrontiert wird. Und das bitte in 90 oder 120 Zeilen. Klingt leichter, als es ist.

Grundlage einer Kanzelrede soll ein biblischer Text sein – und dessen „ungewohnte“ Auslegung, haben Pfarrer Rüdiger Petrat und Professor Axel von Dobbeler in ihrer Einladung dargelegt. Ihnen sei nicht an einer theologisch "richtigen“ Interpretation gelegen, sondern an einem unkirchlichen, nicht-religiösen Zugang zu biblischen Stoffen. Diese Freiheit möchte ich mir auch im zweiten Teil dieser Rede nehmen. Matthäus möge verzeihen – es wird politisch. Es geht im Folgenden um quälende Splitter, dicke Balken und die Diskussionskultur in Deutschland.

Die Toleranz wächst mit den Jahren

Einige von Ihnen kennen das Phänomen vermutlich. Je älter Sie werden, desto gelassener gehen Sie mit Standpunkten und Meinungen um, mit denen sie nicht einverstanden sind. Die Toleranz wächst mit den Jahren, das hat – hoffentlich – nichts mit Gleichgültigkeit zu tun. Wer wachen Sinnes durch unsere schöne Stadt geht, trifft am Wochenende regelmäßig auf Orte, an denen unterschiedlichste Meinungen vertreten werden. Wir haben so etwas wie „speakers‘ corners“, also Orte der freien Rede, zum Beispiel am Remigiusplatz und am Friedensplatz. Was ich da – vorgetragen in einem leiernd-monotonen Duktus - zur israelischen Innenpolitik, zur Zukunft von Kapitalismus und Globalisierung, der Welt im Großen und Kleinen gehört habe, war oft absurd, aggressiv, weltfremd, verbohrt, einfach nur blöd oder unfreiwillig komisch. Das ist in Ordnung. Auch Unsinn gehört zur Meinungsfreiheit. Ich bin neugierig auf andere Meinungen. Ich will sie verstehen. Verständnis hat aber nichts mit Einverständnis zu tun.

Remigiusplatz und Friedensplatz spiegeln die harmlose, idyllische Seite der Debattenkultur wider. Doch was ist mit folgenden Sätzen aus der Welt der Medien und der Politik, die ich Ihnen leider nicht ersparen kann? Im Jahr 2012 polemisierte die Journalistin Mely Kiyak in der Frankfurter Rundschau gegen den Buchautor Thilo Sarrazin – für Kiyak war der Verfasser des Buches „Deutschland schafft sich ab“ eine „lispelnde, stotternde, zuckende Menschenkarikatur“. Sie distanzierte sich später von diesem Sprachbild. Sie habe nicht gewusst, dass Sarrazin an einer halbseitigen Gesichtslähmung leide.

Zweites Beispiel: Der Politiker der Alternative für Deutschland (AfD) Björn Höcke hat am 17. Januar 2017 in Dresden erklärt: „Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat." Gemeint war das Holocaust-Mahnmal in Berlin.

Das sind schreckliche Sätze, einmal von links, einmal von rechts. Ich fürchte, sie sind repräsentativ für das Niveau der Debattenkultur in Deutschland. Sie hat sich weit von Matthäus‘ Empfehlung entfernt, maßvoll und ausgewogen im Urteil zu sein, selbstkritisch, rücksichtsvoll, demütig und voller Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit. Stattdessen müssen wir einen emotionalen Klimawandel in der Gesellschaft konstatieren. "Wellen der Feindseligkeit, Aufhetzung und Desinformation gehen um die Welt, Shitstorms, massenhafte Bedrohungen und haltlose Behauptungen verbreiten sich viral", hat Georg Franck festgestellt. Er ist Professor für digitale Methoden in Architektur und Raumplanung an der Universität Wien und Autor des Buches "Die Ökonomie der Aufmerksamkeit". Ressentiments werden von rechts nach links und von links nach rechts abgefeuert. Die rechten, gefährlich erscheinenden Positionen haben dabei zuletzt eine gründliche analytische Beachtung erfahren.

Siegeszug der politischen Korrektheit

Das Phänomen der sogenannten „neuen Rechten“ und der Aufstieg der „Rechtspopulisten“ sind aufs Engste mit dem Siegeszug der „politischen Korrektheit“ verbunden. "Political correctness" ist ein soziokulturelles, in den USA entstandenes Phänomen, das längst auch Europa erreicht hat. Dabei handelt es sich, kurz gefasst, um einen linksliberalen Katechismus, der vorschreibt, was politisch, kulturell, sozial, ökologisch und sprachlich angemessen sei. Die Bewegung nimmt Minderheiten in Schutz, sorgt sich um die faire Behandlung von Frauen, Tieren und Umwelt. Sie will das Denken und die Sprache rein halten. Was mit guten Absichten begann, hat im Namen einer höheren Moral und Empfindsamkeit jedoch totalitäre Züge angenommen.

In den USA ist in manchen universitären Milieus Händeklatschen verpönt, weil man Einarmige diskriminieren könnte. Dort ist man aufgerufen, sensibel zu sein für die "Verletzbarkeit der Identitäten, der Hautfarben und Geschlechter", wie der „Spiegel“-Korrespondent Philipp Oehmke beobachtet hat. Korrekterweise müsse man grundsätzlich zwischen männlich und weiblich unterscheiden können und darüber hinaus fein differenzieren zwischen schwul, lesbisch, bi oder transsexuell - oder "cisgender".

Die neuen Rechten in Europa und den USA, allen voran der amerikanische Präsident Donald Trump haben die Mechanismen der politischen Korrektheit intensiv studiert und schließlich ihr Erfolgsmodell übernommen. „Sie haben die strategischen Vorteile des Opferstatus entdeckt“, hat der Journalist Josef Joffe festgestellt. „Sie sehen sich als Leidtragende der Globalisierung, der Einwanderung, des Multikulti-Kultes – und der Bevormundung durch die ,Elite‘, die ihnen das Maul verbiete und die Würde raube.“

Katastrophale Folgen für den öffentlichen Diskurs

Hierin verbirgt sich, glaube ich, der Kern des oben skizzierten Debattenproblems, der zunehmenden Verrohung der Sitten. Viele Mitglieder des linken Milieus fühlen sich, vereinfacht dargestellt, in Zeiten von Trump & Co. als Verlierer. Sie haben Angst davor, dass sich ihre kulturelle Dominanz nach einem halben Jahrhundert nicht mehr aufrechterhalten lässt. Die "progressive" Linke hat rund 50 Jahre den Ton und die Richtung in der gesellschaftspolitischen und kulturellen Debatte vorgegeben. Daraus ist, wie gesagt, das Phänomen der politischen Korrektheit entstanden.

Doch die bisher stumme Mehrheit der Gesellschaft ist dabei, die Karten neu zu mischen. Die Digitalisierung stellt den Menschen dafür wirkungsvolle, noch dazu billige Verstärkeranlagen zur Verfügung. Das Internet habe die mediale Hegemonie der Fortschrittlichen zerschossen, fasste der österreichische Journalist Michael Fleischhacker in der "Neuen Zürcher Zeitung" den Vorgang treffend zusammen. Sie müssen nun zusehen, wie die Rechten ihr eigenes, erfolgreiches Modell von politischer Korrektheit zusammenbauen.

Das alles hat katastrophale Folgen für den öffentlichen Diskurs. Auch in Deutschland. Das Jahr 2010 bedeutete eine Zäsur in der Debattenkultur. Thilo Sarrazin veröffentlichte sein eben genanntes Buch "Deutschland schafft sich ab" - und erntete Verrisse. Es setzte Prügel für den Provokateur, die mediale Erregung war enorm. Der Furor der Reflexe stand in keinem Verhältnis zum Gehalt der Reflexion. Die Schwächen des Buches über Zuwanderung und Integration, Demografie und Bevölkerungspolitik waren willkommener Vorwand, um viele andere Argumente zu ignorieren. Oder um die große Keule herauszuholen. "Nazi in Nadelstreifen" nannte Aiman Mazyek vom Zentralrat der Muslime Sarrazin. Die in Istanbul geborene Soziologin Necla Kelek urteilte: "Der Eindruck drängt sich auf, hier solle eine überfällige Debatte mit den bewährten Begriffen wie Rassismus und Populismus kontaminiert werden.“

Den im Fall Sarrazins perfektionierten Freund-Feind-Mustern folgt bis heute am intensivsten die Diskussion über den Islam. Die Vehemenz der Auseinandersetzung resultiert aus einer stetig gewachsenen Verunsicherung. Die Selbstgewissheit jener, die vom Entwurf einer multikulturellen Gesellschaft nicht lassen wollen, droht sich aufzulösen. Was, wenn die Vision den Realitätstest nicht besteht? Das führt dazu, unbequeme Meinungen mit dem wohlfeilen, automatisierten Vorwurf des Populismus und der Islamophobie zu belegen.

Skepsis gegenüber den Eliten

Auf der anderen Seite stehen Menschen, die sich mit ihrer Skepsis von den politischen Eliten und von manchen Medien nicht ernst genommen fühlen. Sie glauben nicht an die durchschlagende Wirkung von Integration. Diese Skepsis ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, im extremen rechten Milieu äußert sie sich nur am lautesten. Das führt dort zu sprachlichen Exzessen, unappetitlichen und manchmal menschenverachtenden Parolen. Zum rhetorischen Arsenal gehören gefälschte Fakten, Lügen und kalkulierte Verdrehungen. „Was Links kann, können die neuen Ultras allemal, bloß viel besser“, hat Josef Joffe erkannt. Unübertroffen seien ihr Zynismus und ihre Gemeinheit.

Doch zur Wahrheit gehört auch, dass die eigentlich differenziert denkende Klasse in Deutschland den Wutbürger in sich entdeckt hat. Antirechte Intellektuelle und Journalisten haben sich in ihrem Engagement gegen Rechts die kommunikative Rüpelei, die sie gern wortreich beklagen, zu eigen gemacht, mit allem, was dazugehört: Schimpfen, Weghören, Ausgrenzung, Kommunikationsverweigerung und fragwürdige Positionen. Im vergangenen Jahr wurden in einer seriösen Berliner Zeitung Prügelmeuten der sogenannten Antifa dafür belobigt, dass sie mit ihren Gewaltaktionen den politischen Gruppen, die sie zu Nazis erklärt hatten, die Wahrnehmung von Rede- und Demonstrationsfreiheit nach Kräften unmöglich machten. „Mob“ und „Pack“, aber auch „Idioten“ und „Dumpfbacken“ gehören mittlerweile zum Vokabular mancher Medienleute. Sie machen sich die Sache zu einfach.

Im Gegenwind der politischen Klasse

Das Problem lässt sich anhand einer Persönlichkeit illustrieren: Rüdiger Safranski. Der Philosoph und Buchautor erhält in diesem Jahr den mit 20.000 Euro dotierten Ludwig-Börne-Preis. In der Begründung heißt es unter anderem, Safranski mische sich in aktuelle politische Diskussionen in Deutschland ein. Zitat des Jurors Christian Berkel. „Den Gegenwind der politischen Klasse, die seine Meinungen und Analysen mitunter als störend empfindet, erträgt er gelassen.“

Safranski hat im Gespräch mit dem Journalisten Matthias Matussek Ende September 2015 zum Thema Flüchtlinge bemerkt: "Die Politik hat die Entscheidung getroffen, Deutschland zu fluten." Und: "Wenn die Kanzlerin sagt, Deutschland wird sich verändern, da möchte ich doch bitte gefragt werden." Der Politik traute Safranski nicht zu, dass sie die nötige Konsequenz und Kraft für eine funktionierende Integration aufbringe: "Jetzt rächt sich, dass wir nie eine vernünftige Debatte zur Leitkultur hatten, also zum Beispiel, dass unsere Verfassung über der Scharia stehen muss. Dass Grundsätze und Werte wie Gleichberechtigung unantastbar sind."

Das war eine zumindest diskutable Position - für die Safranski prompt Prügel bekam. Christian Schröder schrieb im "Tagesspiegel" höhnisch von einem "sorgenvollen Altmännergespräch" und fragte: "Wollte Safranski an der bayrisch-österreichischen Demarkationslinie stehen und bestimmen, wer rüberdarf und wer nicht?" Heute ist Christian Schröder der Meinung, Safranskis Rhetorik bewege sich in seinen letzten Interviews „zwischen Stammtisch, AfD und CSU“. Safranski solle nicht kassandrahaft vor einer schrecklichen Zukunft warnen, sondern erklären, wie man mit Problemen fertig wird. Das könne man von einem Börne-Preisträger schließlich erwarten.

Eingeschränktes politisches System

Wie Safranski trifft es den Kolumnisten Harald Martenstein, der 2016 an dieser Stelle aufgetreten ist, den Philosophen Peter Sloterdijk, die Autoren Botho Strauß, Martin Mosebach und Sibylle Lewitscharoff, das Magazin „Cicero“. Statt auf deren Argumente zu reagieren, sich produktiv mit ihnen auseinanderzusetzen, wird den Genannten denkfaul attestiert, sie arbeiteten, ob sie es wollten oder nicht, der AfD zu. Debattenkultur auf gleicher Augenhöhe sieht anders aus.

Das linke Londoner Wochenblatt „New Statesman“ hat in der deutschen Lust, abweichende Meinungen aus dem öffentlichen Diskurs auszuschließen, ohne sich argumentativ mit ihnen auseinanderzusetzen, das Merkmal eines sehr ,eingeschränkten und elitären‘ politischen Systems entdeckt, in dem das Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten gestört sei.

Es wird Zeit, dass sich die Debatten- und Streitkultur in Deutschland dem Ernst der Themen anpasst. Für das Wahljahr 2017 kann man sich nur wünschen, dass die Vernunft den Ton bestimmt. Gegen die oben angesprochenen Wellen der Feindseligkeit, gegen Aufhetzung, Desinformation und Shitstorms müssen die Gesellschaften Abwehrmechanismen entwickeln. Den emotionalen Klimawandel müssen sie so ernst nehmen wie den globalen. Immerhin haben die Entwicklungen frischen Wind ins lange erlahmte Interesse am politischen Diskurs gebracht. Dass seit einer Weile leidenschaftlich und differenziert über dieses Thema geschrieben und gesprochen wird, stimmt hoffnungsvoll. Viele haben erkannt: Es lohnt sich, für demokratische Werte und eine würdevolle Debattenkultur zu kämpfen.

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