Rückblick auf die NS-Zeit Wie die Franzosen mit den Nazis kollaborierten

Paris · Das Pariser Winter-Radstadion wurde vor 75 Jahren zum Symbol französischer Kollaboration während der NS-Judenverfolgung. Nach der Befreiung hat Frankreich lange gebraucht, um seine Mitverantwortung zu akzeptieren.

 An die Tragödie der Deportation erinnert seit 1988 ein Güterwaggon im Innenhof des Gebäudekomplexes in Drancy.

An die Tragödie der Deportation erinnert seit 1988 ein Güterwaggon im Innenhof des Gebäudekomplexes in Drancy.

Foto: Christoph Weymann

Als die Pariser Polizei am Morgen des 16. Juli 1942 vor den Wohnungstüren ausländischer Juden steht, glauben viele, durch die Gerüchte genügend vorbereitet zu sein. Polizisten hatten jüdische Bekannte gewarnt, sich an den Tagen um den Nationalfeiertag besser nicht zu Hause aufzuhalten, weil eine Razzia geplant sei. Viele Familienväter haben sich daraufhin mit ihren älteren Söhnen versteckt, denn bis dahin waren nur Männer verhaftet worden.

Diesmal aber hatten die deutschen Besatzer von den französischen Behörden verlangt, arbeitsfähige Männer und Frauen ab 16 Jahren festzunehmen. Unter dem zynischen Namen „Operation Frühlingswind“ sollten Massenverhaftungen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden die Deportationszüge in Richtung Osten füllen.

Die antisemitische Vichy-Regierung unter Pierre Laval im unbesetzten Süden des Landes hat damit keine großen Probleme. Laval handelt nur aus, dass zuerst die ausländischen und staatenlosen Juden deportiert werden sollen. Anfang Juli schlug er sogar vor, „aus humanitären Gründen“ die Familien nicht zu trennen, also auch die Kinder zu deportieren. Das Kalkül der Kollaborateure war, sich als loyale Partner der Besatzer zu bewähren.

Im Großraum Paris soll die französische Polizei, die in ganz Frankreich der Vichy-Regierung unterstellt ist, am 16. und 17. Juli rund 22.000 Juden verhaften. Am Ende finden die Häscher 13.152 Menschen, darunter fast 6000 Frauen und mehr als 4000 Kinder, von denen viele durch ihre Geburt in Frankreich die französische Staatsbürgerschaft besitzen. Dadurch sollen sie eigentlich genauso von der Verhaftung verschont werden wie etwa Schwangere kurz vor der Entbindung oder Ehefrauen von Kriegsgefangenen. Nur dürfen solche Ausnahmefälle erst in den Sammelstellen, also nach der Verhaftung, überprüft werden. Einige Kinder können noch schnell Nachbarn übergeben werden.

Die Meisten handeln wie befohlen

Manche Polizisten sollen geweint haben, einzelne schicken Kinder noch schnell etwas besorgen, um ihnen eine Gelegenheit zur Flucht zu geben. Die meisten aber tun einfach das, was ihnen befohlen wurde. Familien mit Kindern – etwa 8000 Menschen – werden ins „Velodrome d' Hiver“ in der Nähe des Eiffelturms gebracht. Das Winter-Radstadion mit 17.000 Sitzplätzen ist eine beliebte Sporthalle für Spektakel aller Art. Jetzt hatte man zwar akribisch die Erfassung und Verhaftung der Menschen geplant, für ihre Unterbringung aber kaum Vorkehrungen getroffen. Als sich die Mitte des riesigen Stadions und die drei Zuschauerränge mit den zusammengetriebenen Menschen füllen, gibt es nichts zu essen und kaum Wasser.

Die wenigen Toiletten sind bald unbenutzbar, sodass die von der Julisonne aufgeheizte Halle von beißendem Gestank erfüllt wird. Die Schreie der bedrängten Menschen bleiben der Nachbarschaft und den Passagieren der nahen Metro-Hochbahn nicht verborgen. Bis zu sechs Tage bleiben die Verhafteten in der Winterrennbahn mitten in Paris mehr oder weniger auf sich gestellt. Nur ein Dutzend Schwestern des Roten Kreuzes und einige Ärzte erhalten die Erlaubnis, sich um die Eingesperrten zu kümmern. Mindestens zehn Menschen nehmen sich im Stadion das Leben, andere erliegen unter den erbärmlichen Umständen ihren Krankheiten.

Schließlich werden die Opfer in zwei Barackenlager etwa 80 Kilometer südlich von Paris gebracht. Die Erwachsenen deportiert man keine zwei Wochen später nach Auschwitz. Die Kinder werden wochenlang sich selbst überlassen, nur ein paar wenige nicht deportierte Frauen und einige Rotkreuz-Helferinnen kümmern sich um sie. Ende Juli übermittelt Adolf Eichmann, Hauptkoordinator der massenhaften Ermordung der Juden in Europa, die offizielle Genehmigung, auch Kinder zu deportieren, an Hauptsturmführer Theodor Dannecker, der zu dieser Zeit im SS-Sicherheitsdienst (SD) die Verschleppung der Juden aus Frankreich organisiert.

Im August wurden die Kinder dann noch einmal ganz in die Nähe von Paris gebracht. Dass die Gemeinde Drancy zehn Kilometer nordwestlich von Paris zum französischen Drehkreuz der Judenvernichtung wurde, hatte nicht nur mit den nahe gelegenen Bahnhöfen zu tun. Ausgerechnet ein Gebäude des hypermodernen Sozialbaukomplexes „La Muette“ wurde zum Durchgangslager für fast alle aus Frankreich deportierten Juden.

6000 Menschen auf engstem Raum

Zu Beginn der 1930er Jahre hatte man dort ein Ensemble mit den ersten Wohnhochhäusern Europas errichtet, das weltweit als architektonischer Meilenstein galt. Nur waren die Mieten durch die komfortable Innenausstattung zu hoch für Arbeiter, für die es dort auch weder Fabriken noch eine Nahverkehrsanbindung gab. So quartierte das Innenministerium schließlich eine Einheit der Gendarmerie samt Familien dort ein. Das „Hufeisen“, ein vierstöckiges Gebäude mit U-förmigem Grundriss, hatte man erst gar nicht fertiggestellt und innen im Rohbau belassen.

Nach der Besetzung Frankreichs nutzten die Deutschen das riesige Haus mit dem 200 Meter langen, leicht abzuriegelnden Innenhof als Internierungslager. Die Gendarmen bildeten das Wachpersonal, beaufsichtigt von der Polizeipräfektur, kontrolliert vom Judenreferat des SD. Im August 1941 wurden dort erstmals jüdische Männer eingesperrt, bei der Razzia im Juli 1942 brachte man die kinderlosen Erwachsenen nach Drancy. Das Lager war stadtbekannt. Man konnte in der Zeitung lesen, dass die Juden dort endlich unter Kontrolle seien. In dem Gebäude, das man für 500 Menschen geplant hatte, wurden zeitweise mehr als 6000 Menschen auf engstem Raum, ohne Strom und fließend Wasser zusammengepfercht, bevor die meisten von ihnen nach Auschwitz deportiert wurden.

Insgesamt 76 000 Juden wurden aus Frankreich, vor allem über Drancy, in die Vernichtungslager gebracht. Davon kehrten nach dem Krieg nur rund 2500 zurück. Eine Reihe von Menschen konnte durch Bestechung oder diplomatische Intervention ihrer Herkunftsländer noch rechtzeitig aus dem Lager bei Paris gerettet werden, auch einzelne Kinder aus dem „Velodrome d' Hiver“. Von den deportierten Opfern der Razzia lebten bei Kriegsende noch etwa einhundert Menschen; darunter kein einziges Kind.

Nachdem Frankreich im August 1944 befreit worden war, stellte man die Erinnerung an die Résistance in den Vordergrund, um die Nation mit sich selbst zu versöhnen. Im früheren Lagergebäude in Drancy wurden 1948 doch noch Sozialwohnungen eingerichtet.

Güterwaggons zur Erinnerung

Die wenigen Menschen, denen man dort heute um die Mittagszeit begegnet, sehen alles andere als wohlhabend aus. Das Haus wirkt heruntergekommen, eine Renovierung ist auch wegen des Denkmalschutzes schwierig. Vor der offenen Seite des Gebäudes gibt es seit 1976 ein Mahnmal, 1988 wurde auch ein alter Güterwaggon zur Erinnerung dort aufgestellt. Wie sich die Auseinandersetzung mit dem, was hier geschehen ist, langsam veränderte, wird an den angebrachten Gedenktafeln sichtbar, auf denen anfangs die „Hitlersche Besatzungsmacht“ und später der „französische Staat von Vichy“ verantwortlich gemacht wurden.

Seit 2012 lässt sich das Gelände diskret aus der Ferne betrachten – durch die Fensterfront einer Filiale der Pariser Museums-Gedenkstätte „Memorial de la Shoah“. Die jüdische Einrichtung wolle dort nicht auffallen, erklärt die Leiterin Elise Malka. Drancy zählt zu den eher schwierigen Banlieues, einer der Bataclan-Attentäter kam von dort. Zwar predigt im Ort auch ein Imam, der für eine Versöhnung mit den Juden eintritt – nur braucht er deshalb Polizeischutz.

Auf einer Straßenseite der Rue Nelaton in Paris gibt es noch immer die bürgerlichen Mehrfamilienhäuser, die 1907, zwei Jahre vor dem Bau des Radstadions, dort errichtet wurden. Gegenüber stehen seit den 1960er Jahren anstelle des nach einem Brand 1959 abgerissenen Sportpalastes große Hochhäuser. Eine Gedenkstätte davor wurde zum 75. Jahrestag in einen „Garten der Kinder des Vel'd'Hiv“ umgestaltet. Solange das Gebäude noch existierte, gab es zwar eine Gedenktafel, aber dort fanden weiterhin Radrennen, Boxkämpfe oder Eisrevuen statt; der junge Yves Montand besang das bunte Treiben in einem flotten Schlager, als ob nichts geschehen wäre.

Erst 1993 erklärte Staatspräsident François Mitterrand den 16. Juli zum „Nationalen Tag der Erinnerung an die Opfer rassistischer und antisemitischer Verfolgung“ – wohlgemerkt: unter der Verantwortung der „sogenannten Regierung des französischen Staates“. Im Jahr darauf ließ Mitterrand am nahe gelegenen Quai de Grenelle ein Mahnmal für die Opfer der Razzia errichten, bestand aber darauf, dass die Republik mit der Schuld Vichys nichts zu tun habe.

Als sein Nachfolger Jacques Chirac dort am 16. Juli 1995 eine Rede hielt, bekannte er sich zur Verantwortung Frankreichs. „Ja, der kriminelle Wahnsinn der Besatzungsmacht wurde unterstützt von Franzosen“, sagte Chirac, „vom französischen Staat“. Außerdem ergänzte er den Gedenktag – an dem seit dem Jahr 2000 der Staat ohne distanzierende Anführungszeichen als Mittäter genannt wird – um die Würdigung der Helfer verfolgter Juden, die es bei dieser Razzia gegen Juden ermöglichten, dass Tausende entkommen konnten.

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