TV-Nachlese zu „Hart aber fair“ „Die Bonpflicht ist das Tempolimit im Zahlungsverkehr“

Düsseldorf · Bonpflicht, Kreuzkröte, Grabsteinrüttelpflicht: Die Gäste der Talkrunde „Hart aber fair“ haben den Raum zwischen Vorschriftengetümmel und Fortschritt um jeden Preis ausgelotet. Kaum zu stoppen dabei: Edmund Stoiber.

So war "Hart aber fair" am 3. Februar über Demokratie und Vorschriften
Foto: WDR

Auf in den Paragrafen-Dschungel! Oder in den Sozial-Darwinismus? Während die einen über bürokratische Hürden in Deutschland lamentieren oder lachen, kämpfen die anderen für ein schützendes Regelwerk. In weniger als zehn Minuten gibt es auch bei „Hart aber fair“ den ersten Streit zum Thema „Hier Bonpflicht, da Krötenschutz: Alles geregelt, aber nichts geht mehr?“. Moderatorin Susan Link muss zudem den Vielredner Edmund Stoiber bremsen.

Darum ging’s:

Viele Beispiele in den Einspielern zeigen Aufregerthemen von der Bonpflicht über Artenschutzmaßnahmen bis zu Bauvorschriften. Darüber steht die Frage, ob Vorschriften unerlässlich sind, um zum Beispiel Betroffene bei Großprojekten zu schützen, oder ob all diese Regeln bloß dem Fortschritt im Wege stehen.

Darum ging’s wirklich:

Wie bei Pippi Langstrumpf würde sich mancher gern die Welt – und ihre Regeln – so machen, wie es ihm persönlich gefällt. Verstecken sich etwa ganz andere Interessen hinter der Bürokratie-Kritik?

Die Gäste:

  • Edmund Stoiber, CSU-Ehrenvorsitzender
  • Frank Thelen, Start-up-Investor
  • Alicia Anker, „extra3“-Redakteurin
  • Stephan Grünewald, Psychologe
  • Werner Jann, Verwaltungswissenschaftler
  • Richard Raskin, Umweltberater

Der Frontverlauf:

Nach der Einleitung mit Einspieler-Bildern von Kassenbon-Bergen darf Alicia Anker bestätigen, dass so etwas perfekt für eine Satiresendung wie „extra3“ sei, bei der sie wöchentlich über Bürokratie-Auswüchse berichtet. „Es ist absurd: Den Leuten wird gesagt, sie sollen keine Kaffee-To-Go-Becher mehr kaufen, und jetzt werden Bons ohne Ende produziert.“ Der Start-up-Investor Frank Thelen fordert eine Digitalisierung und findet die vielen Bons peinlich.

Als nächster in der Reihe wendet Verwaltungswissenschaftler Werner Jann sich abrupt von Meinungen ab und liefert Sachinformationen: Bei der Bonpflicht gehe es um Steuerhinterziehung in Höhe von schätzungsweise zehn Milliarden Euro. Zudem gebe es seit 2016 ein Gesetz gegen die Manipulation von Kassen, dem der Handel aber nicht mit entsprechenden Änderungen bei den Kassensystemen nachgekommen sei. Obendrein gebe es in vielen anderen Ländern längst eine Bonpflicht. Das deutlich kleinere Österreich etwa habe nach der Einführung mehr als 600 Millionen Euro mehr an Steuern eingenommen. Und: „Diese neue Liebe für den Umweltschutz ist ja nicht so ganz glaubhaft.“ Da solle man nur einmal auf die Verhältnisse schauen: Pro Stunde würden beispielsweise 330.000 Einwegkaffeebecher anfallen.

Diese Zahlen und Fakten bringen nach nicht einmal zehn Minuten die Gefühle in Wallung. Thelen richtet sich direkt an Jann: „Wenn wir etwas schlecht machen, kann man doch nicht sagen: Ja, aber wir machen noch etwas anderes schlecht?“ Thelen konstatiert, Deutschland habe den Ansporn verloren, Anführer zu sein, „mal eine Blockchain zu leben“, und es ginge doch gar nicht um Steuerhinterziehung. An diesem Punkt geht Moderatorin Susan Link dazwischen und stellt mit Hilfe eines Einspielers klar, dass die Bonpflicht sehr wohl der Bekämpfung von Steuerhinterziehung dient. Danach fragt sie den Psychologen Stephan Grünewald, wieso das Thema die Menschen so schnell auf die Palme bringt.

Der erklärt es mit innerer Zerrissenheit. Auf der einen Seite stehe das Ideal der perfekten Welt, in der Steuern gerecht abgeführt werden – und auf der anderen Seite der Alltagsmensch, der die Bonpflicht als „Tempolimit im Zahlungsverkehr“ erlebt. Die Folge dieses Hin und Hers: Viele Regeln im Alltag und „mindestens zweimal im Jahr flirten wir in anderen Ländern mit dem Chaos.“ Später erinnert Grünewald an die eigentlichen Hintergründe für Regeln: ohne sie regiere Willkür und das Recht des Stärkeren. Eine zunehmende Bürokratiefeindlichkeit werde deshalb mit der Zeit zur Demokratiefeindlichkeit.

Doch zunächst meldet sich der CSU-Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber zu Wort: „Bürokratievorwürfe gibt es ja zu Hauf.“ Er beklagt das schwindende Vertrauen in Institutionen, fast im selben Atemzug aber auch den fehlenden Blick für die Folgen von Gesetzen beim Gesetzgeber. Er kommt von einem Thema zum nächsten, bis Link seine Redezeit beendet.

Jann sieht sich abermals in der Situation, das zuvor Gesagte geradezurücken. Er legt dar, wie der Normenkontrollrat bereits vor dem parlamentarischen Verfahren die Ressorts dazu zwinge, Folgekosten für neue Gesetze zu quantifizieren. Und es gebe auch schon bessere Lösungen für die Bonpflicht, nämlich die Kartenzahlung. „Man kann das besser machen, aber das ist so ein Pipifax-Problem, wir haben wirklich andere Probleme als Bons“, sagt er. Doch Thelen lamentiert über die „Signalwirkung“ der ausgedruckten Bons im Ausland – „wo wir nicht einmal ein 5G-Netz hinkriegen“. Vergessen scheint sein früherer Einwand, man solle Schlechtes nicht mit Schlechtem toppen.

Am Extratisch darf Umweltberater Richard Raskin auseinanderdröseln, was hinter Umweltentscheidungen wie jener zugunsten der Kreuzkröte im geplanten neuen Viertel Freiheit Emscher steckt. So etwas komme gar nicht so oft vor, berichtet er. Umweltschutz werde manchmal für ganz andere Interessen instrumentalisiert – etwa von Nachbarn, die Wert auf ihre schöne Aussicht legen. „Das führt dann zu den Fällen, die vor Gericht und in der Presse landen.“

Schließlich landet die Diskussion bei der Frage, was Bürokratie eigentlich ist. Jann erinnert daran, dass niemand bei einem Gang aufs Amt hören möchte: „So wie Sie aussehen, bekommen Sie hier nichts.“ Das sei aber die Definition von „unbürokratisch“. Eine Bürokratie dagegen bedeute, ohne Ansehen der Person nach Recht und Gesetz behandelt zu werden von jemandem, der zuständig und dafür ausgebildet ist, und den Vorgang schriftlich zu bekommen, damit man sich gegebenenfalls dagegen wehren könne.

Thelen hingegen glaubt, aus Angst vor der Bürokratie würden viele Deutsche kein Unternehmen gründen. Er führt ein Formular an, mit dem der Staat gegen Geldwäsche vorgehen will – und fordert stattdessen, künstliche Intelligenz solle „Bösewichte überwachen“. Nun soll Stoiber über seinen Ärger mit der Bürokratie sprechen, doch er sagt: „Bürokratie ist ein Stück Freiheit, weil ich weiß, was ich brauche und machen muss, um etwas zu bekommen.“

Grünewald bescheinigt den Deutschen eine „seltsame Hassliebe zur Bürokratie“: Wenn sie einen bremse, sei sie böse, ein persönlicher Nutzen bringe ihr dagegen Fürsprecher. Beim Thema „Coronavirus“ etwa könne ja gar nicht genug Bürokratie einkehren. Grünewald beobachtet in Deutschland zudem „skurrile Formen von Privatbürokratie, die an Selbstversklavung grenzen“ – mit Fitness- und Ernährungsapps, bei denen Menschen ihren freien Willen an Algorithmen abträten.

Schließlich findet Jann ein Beispiel, das fast im Einklang mit einer Ausführung von Stoiber steht: Wenn jemand einen Anbau an seinem Haus wolle, solle die Baubehörde das schnell genehmigen. Wolle aber der Nachbar anbauen, wünsche man sich eine sehr genaue Prüfung. Auch in einem anderen Punkt scheinen sich die Gäste einig: Bei aller Bewunderung für schnelle Bauvorhaben – in chinesischen Verhältnissen möchten sie doch nicht leben.

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