Theater-Aufführung in Hamburg Kempowski-Saga: Lust, Leid und Laster der Deutschen

Hamburg · Ein Mammutprojekt zur Zeitgeschichte hat das private Altonaer Theater in Hamburg in Angriff genommen: die Dramatisierung von Walter Kempowskis neunbändiger "Deutscher Chronik" an vier Abenden. Den ersten Teil "Aus großer Zeit" feierte das Publikum.

 Die Schauspieler Philip Spreen (l-r), Tobias Dürr und Johan Richter, der als Walter Kempowsk durch die Geschichte führt.

Die Schauspieler Philip Spreen (l-r), Tobias Dürr und Johan Richter, der als Walter Kempowsk durch die Geschichte führt.

Foto: Markus Scholz

Der Niedergang des deutschen Bürgertums in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und die Zerstörung Rostocks durch alliierte Bomber im April 1942 haben Walter Kempowski sein Leben lang nicht losgelassen.

In den neun Romanbänden seiner "Deutschen Chronik" (1971-1984) hat der preisgekrönte Autor (1929-2007) den Bürgern und seiner Heimatstadt ein Denkmal gesetzt - anhand seiner eigenen Herkunft, der einst wohlhabenden Reederfamilie Kempowski. In einem sehr eigenen, collageartigen Erzählstil, der persönliche Erinnerungen und politische Entwicklungen lakonisch humorvoll mischt.

Grund für den umtriebigen Direktor des privaten Altonaer Theaters in Hamburg, Axel Schneider, sich der Chronik mit ihren Tausenden von Seiten anzunehmen. Und in ein Mammut-Erinnerungsprojekt in seinem Haus, das sich das Motto "Wir spielen Bücher" auf die Fahnen geschrieben hat, zu konzentrieren. Vier Teile sollen es in Schneiders Bearbeitung und unter seiner Regie werden - an diesem Wochenende gab es die beiden ersten Premieren. Zum überaus gelungenen Ereignis des Projekts, das auch von der Kulturstiftung des Bundes und dem Hamburger Mäzen Jan Philipp Reemtsma unterstützt wird, geriet am Samstagabend sogleich die Uraufführung "Aus großer Zeit".

Ein Verdienst auch der neun hinreißenden Darsteller, von denen einige in bis zu zehn Rollen schlüpfen - allen voran Johan Richter, der als aufgeweckter junger Erzähler Walter durch die Bühnengeschichte führt. Auf schräg nach vorn gekippter Bühne zeichnet Schneider unter matt schimmerndem Kronleuchter und bei wenigen Requisiten in teils an alte Fotografien erinnernden Bildern das Geschehen von der Kaiserzeit bis in die 30er Jahre. Man erlebt eine perfekt getimte, mit Musik der Zeit angereicherte Szenenfolge, in denen er die Mentalität und Erlebnisse der Kempowskis und ihrer Hamburger Verwandtschaft, der de Bonsacs, pointiert aufzeigt. Dabei entsteht ein Erzählfluss, der drei Stunden lang kurzweilig in seinen Bann zieht.

Doch Komik und Katastrophe liegen hier, wie in den Büchern, eng beieinander. Zunächst ist noch Kaiserzeit. Man trägt "Vatermörder" genannte Hemdkragen, bodenlange Kleider und Matrosenanzug, macht Urlaub in Strandburgen mit Wimpeln an der Ostsee. "Helden gibt’s nur im Felde" lautet einer der vielen Kempowski-typischen Sätze, mit denen damals junge Männer aufgezogen wurden. Erste Annäherungsversuche zwischen Walters Eltern Karl (Philip Spreen) und Grethe (Nadja Wünsche) im Strandbad Graal geraten unbedarft. Doch hinter den Kulissen geht es ungehemmter zu: So pflegt Walters sonst oft harte Großmutter Anna (Anne Schieber) ein Verhältnis mit dem Tenor vom Stadttheater.

Und so etwas wie Vorläufer rassistischer Vorurteile mag der Zuschauer auch schon erkennen: Die Mecklenburger mögen zwar die Hamburger, aber viel weniger die als hinterwäldlerisch erachteten Pommern. Wie stellt man den Ersten Weltkrieg dar? Den Gedanken muss sich der Erzähler bald machen. Und er lässt die männlichen Akteure im imaginären Flandern mal in einer Rauchwolke verschwinden, mal sich auf dem Boden winden und bei gewaltigem Kanonendonner die Ohren zupressen. Schon dieser erste große Krieg wird Vater Karl, der als Jüngling freiwillig einzog, dauerhaft körperlich und seelisch beschädigen .

Wie dessen als Schmach empfundenes Ende und die wirtschaftliche Not der 20er Jahre den Boden für den Nationalsozialismus bereiten, schildert der Abend unaufgeregt. "Es bleibt eben doch ein Stachel", sagen die Leute. Und ein Dr. Kleesaat (Dirk Hoener) vom Stammtisch der Offiziere bewundert Hitlers klare Ansagen. Er fordert, dass man statt "Guten Tag" nun "Treudeutsch" sage.

Deutsche Menschen - liebenswert in vielen Eigenarten, aber schon mal tödlich in ihrer Borniertheit - Täter und Opfer zugleich. So präsentieren sie sich im Altonaer Theater. Wie die Geschichte weitergeht, ist dann einen Tag später bei der Premiere von "Tadellöser & Wolff" zu erleben. Die Teile drei und vier sollen im Frühjahr 2019 folgen.

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