Das geht unter die Haut "Feuerherz"-Roman von Katja Kettu

Das Grauen des Gulag und die heidnischen Riten des Mari-Volkes: Der Roman „Feuerherz“ der Finnin Katja Kettu taucht tief in dunkle Bezirke ein und geht unter die Haut. Hauptfigur ist die junge Finnin Irga.

 Workutá: Das dortige Kohlebergwerk, zur Stalinzeit von Zwangsarbeitern teils mit bloßen Händen aus dem Boden geschürft, existiert noch immer.

Workutá: Das dortige Kohlebergwerk, zur Stalinzeit von Zwangsarbeitern teils mit bloßen Händen aus dem Boden geschürft, existiert noch immer.

Foto: AFP

Seit mehr als anderthalbtausend Jahren herrscht in Europa das Christentum, seit ein paar Jahrhunderten weniger auch das, was wir heute die „westliche Zivilisation“ nennen. Doch tief in unseren Seelen hausen noch immer die Dämonen der Grausamkeit.

Die finnische Autorin Katja Kettu spürt ihnen in ihrem Roman „Feuerherz“ nach – einem Buch, das unter die Haut geht. Es taucht tief in dunkle Bezirke ein: das Grauen der sowjetischen Straflager, die Naturverbundenheit eines kleinen Volks tief in Russland, und eine dämonisch-tragische Geschichte, die beides verbindet.

Darum geht´s

Der Vorname der jungen Finnin Irga bedeutet übersetzt „Wildvogel“, und genau so benimmt sie sich: wild, frei, ungestüm, lebenslustig. Von einem jungen Kommunisten schwanger, flieht sie 1937 über die verschneite Grenze in die Sowjetunion. Keine gute Idee: Auf ungebetene Besucher ist das Regime Stalins nicht gut zu sprechen.

Irga wird als „Spionin“ verhaftet und ins Arbeitslager geschickt – nach Workutá nördlich des Polarkreises, an eine der schlimmsten Gulag-Horrorstätten überhaupt, wo die Menschen mit bloßen Händen bei Eiseskälte im Bergwerk fronen müssen. Eigentlich das Todesurteil für Irga – nähme sich nicht die aufrechte Elna ihrer an: Sie ist vom Volk der Mari, das an der mittleren Wolga lebt und noch heute für seine heidnische Naturreligion bekannt ist.

Lakonische Sprache für den furchtbaren Alltag

In einer fast lakonischen Sprache beschreibt Kettu den furchtbaren Alltag der Häftlinge – den Hunger, die Gewalt, die Verzweiflung – vor allem aus Irgas Perspektive. Die Verbindung zur Gegenwart schaffen die gealterte Elna und die finnische Journalistin Verna, Enkelin Irgas: Verna kommt im Jahr 2015 in Elnas Dorf im Mariland. Vernas Vater, Irgas Sohn, ist ermordet worden; er suchte im Dorf nach Spuren seiner Vergangenheit. Wirklich nur seiner? Verna fragt sich, worum es ging – und das Verhalten der alten Elna macht sie misstrauisch.

Dieser Haupt-Handlungsstrang des Buchs ist eine Art anspruchsvoller Historienroman, spannend geschrieben, wenn auch ob des brutalen Sujets als Pausenlektüre nur bedingt geeignet. Auch der ständige Wechsel zwischen den Zeiten und Figuren verwirrt zu Beginn. Drei Hauptpersonen – ist das nicht mindestens eine zuviel? Es gibt jedoch einen Grund für diese dichte Konstellation.

Es gibt noch eine zweite Geschichte in der Geschichte, noch düsterer, von Kettu in einer Art magischem Realismus mit den historischen Ereignissen kunstvoll verwoben. Es geht um ein zweites Kind, das Irga im Lager zur Welt brachte: Der kleine Wolodja konnte nur überleben, weil sie für ihn ein Opferritual an einen heidnischen Dämon zelebriert hat.

Der Teufelspakt bleibt nicht ohne Folgen: Die Freundschaft zwischen Irga und Elna endet auf schreckliche Weise. Und als Verna nach Russland reist, ist Wolodja dort zu einem mächtigen Mann geworden. Zu einem sehr mächtigen. „Wolodja“ ist nur eine Koseform – eigentlich heißt er Wladimir ...

Schlimmste Grausamkeiten beiläufig erzählt

So verwickelt die Geschichte klingt, so schnörkellos gelingt es Kettu interessanterweise, sie zu erzählen. Sie schreibt fast beiläufig selbst über die schlimmsten Grausamkeiten – jedoch ohne das voyeuristische Aufgeilen, das solche Bücher oft prägt. Selbst die Schergen der Lagerhölle sind keinem naiven Gut-Böse-Schema unterworfen, und Kettus starke Frauengestalten sind keine Heldinnen, sondern haben dunkle Seiten zuhauf.

Eine davon ist, von der Gewalt, die sie erfahren, nicht wirklich entsetzt zu sein. Etwa, als Irgas Dorfgenossen ihr der „schändlichen“ Schwangerschaft wegen die Zunge abschneiden: „Ein großes Stück löste sich, dass das Blut nur so spritzte, aber das machte mich eher wütend, als dass es mich erschreckte.“

Kettus Naturschilderungen tragen vergleichbaren Charakter, entbehren trotz vordergründiger Schönheit aller Romantik. Das Mariland Elnas ist kein Idyll, sondern eine dunkle Macht – selten ist der mit Wasser vollgelaufene Keller einer dörflichen Hütte derart bedrohlich beschrieben worden.

Seltsame Lücken in der Biografie

Beeindruckend auch, wie Kettu Vergangenheit und Gegenwart durch viele symbolhafte Parallelen verbindet (zwischen dem „Nachtfalter“ etwa, dem Symbol eines Aufstands im Lager, und dem MG-bewaffneten Helikopter des neuen Zaren, der Jahrzehnte später über dem Mari-Dorf kreist). Immer wieder lässt die Autorin dabei auch absichtlich erzählerische Lücken, die das Bedrohlich-Unheimliche nur verstärken.

Faszinierend ausführlich hingegen widmet Kettu sich dem Glaubenssystem der Mari. Ihrer Überzeugung etwa, dass ein Mensch drei Seelen habe (eine hat die Gestalt eines Nachtfalters), oder ihren Ritualen an heiligen Quellen in heiligen Hainen, wo sie zur Ehre der Götter Ketše Awa und Kugu Jumo weiße Hengstfohlen opfern.

Das Allerfaszinierendste an der Geschichte jedoch ist, dass die Autorin sich die Verschwörungstheorie über die Kindheitsjahre des mächtigsten Mannes Russlands nicht ausgedacht hat. Nicht komplett jedenfalls. Seine offizielle Biografie hat durchaus seltsame Lücken; folgen Sie einfach mal dem Link in Fußnote 6 des Wikipedia-Artikels über ihn.

Katja Kettu: Feuerherz. Ullstein, 430 Seiten, 20 Euro.

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