Regisseur Frank Castorf "Ein grüner Junge" feiert Premiere in Köln

Köln · Regisseur Frank Castorf kehrt nach seiner ersten Kölner Inszenierung im Jahre 1989 als mittlerweile hochrenommierter ehemaliger Volksbühnen-Intendant mit Dostojewskijs „Ein grüner Junge“ zurück.

 Ein grüner Junge nach dem Roman von Fjodor Dostojewskij Regie: Frank Castorf Bühne: Aleksandar Denić Kostüme: Adriana Braga Peretzki Video: Andreas Deinert Musik: William Minke Licht: Rainer Casper Dramaturgie: Julian Pörksen Foto: Thomas Aurin Uraufführung am 01.11.2018 im Depot 1 Kontakt des Fotografen: post@thomas-aurin.de Auf dem Bild sehen Sie: Ensemble

Ein grüner Junge nach dem Roman von Fjodor Dostojewskij Regie: Frank Castorf Bühne: Aleksandar Denić Kostüme: Adriana Braga Peretzki Video: Andreas Deinert Musik: William Minke Licht: Rainer Casper Dramaturgie: Julian Pörksen Foto: Thomas Aurin Uraufführung am 01.11.2018 im Depot 1 Kontakt des Fotografen: post@thomas-aurin.de Auf dem Bild sehen Sie: Ensemble

Foto: Thomas Aurin

Die Dame gesetzteren Alters sucht mit den Augen die Sitzreihe im Kölner Depot 1 ab, wo eigentlich ihre Bekannte sitzen sollte. Die ist nicht zu finden: „Du, die Evi hat gekniffen“, flüstert sie ihrem Begleiter zu. Regisseur Frank Castorf eilt nun mal der Ruf eines Stücke zerfetzenden Berserkers voraus, nach seiner ersten Kölner Inszenierung im Jahre 1989 kehrt der mittlerweile hochrenommierte ehemalige Volksbühnen-Intendant nun mit Dostojewskijs „Ein grüner Junge“ zurück. Neugier, aber auch Anspannung waren zur Premiere mit Händen zu greifen.

Seinem Ruf wird Castorf mühelos gerecht, den 800 Seiten-Roman hat er mit Dramaturg Julian Pörksen zu einem Sechs-Stunden-Monster fürs Theater bearbeitet. Eine Herausforderung, gar eine Zumutung ist das durchaus. Denn selbst, wer die labyrinthischen Handlungsstränge der Vorlage einigermaßen präsent hat, ist zunächst ratlos: Die Chronologie ist weitgehend aufgehoben, Textpassagen werden von anderen Figuren gesprochen, die Zuordnung von Schauspielern zu Rollen bleibt häufig unklar, einzelne Motive und Nebenfiguren werden erwähnt, aber nicht weiter eingebettet.

Die erste Stunde ist hart, aber danach verdichtet sich die lose Szenefolge immer wieder zu großen Theater-Momenten. Wenn etwa die jugendliche Hauptfigur Arkadij, unehelicher Sohn des Gutsbesitzers Werssilow und der Magd Sofja, auf der Suche nach Zugehörigkeit und Identität zurückkehrt und schnöde zurückgewiesen wird, zerbröselt im hitzigen Dialog mit seinem Vater eine ganze Wertewelt. Der Konfrontation mit der Realität, mit privaten Verstrickungen, Intrigen, Macht und Geld, halten die großen „Ideen“ des Pubertierenden nicht stand. Nächstenliebe, Katholizismus, Kommunismus, Nihilismus, Selbstmord – alles ist im Angebot, doch die einzelne Lehre, der mögliche Ausweg sind niemals zwingend, nur Teil einer Palette.

Vermehrung des Kapitals

Doch so einfach ist es auch wieder nicht. Nikolay Sidorenk zeigt zwar Arkadijs Verwirrung und Verletzlichkeit, aber auch eine gewisse Gewieftheit, wenn es um die Vermehrung seines Kapitals geht. Und für Werssilow, dem Peter Miklusz einen zynischen, leicht schmierigen Pragmatismus verleiht, verspürt der Zuschauer auch Verständnis: „Ein intelligenter Mensch kann nicht leben, ohne sich zu verachten“, sagt er. Das ganze Stück über schreien die Figuren einander an, fiebrig, gehetzt, hysterisch, als seien nicht nur Empörung, Hass und Liebe im Spiel, sondern auch ein beständiges Schuldgefühl ob der persönlichen Schwächen, ein gewaltiger Druck, sich zu rechtfertigen.

Diese Verzweiflung über die Conditio humana lassen Melanie Kretschmann als intrigante Fürstentochter Katerina und Sabine Waibel als adlige Tatjana zu Beginn des zweiten Teils mit einer großen Schreiorgie endgültig in Parodie und Farce, ins Absurde kippen: „Nichts ist unterhaltsamer als Unglück“, sagte Beckett, Castorf und sein Ensemble beweisen es.

Schon die Kulisse von Aleksandar Denic lädt zum Entertainment ein: eine muffige Datscha mit Jukebox, Spielautomat und Billard, anbei ein Kiosk mit Pepsi-Reklame und einer riesigen Autokino-Leinwand, auf die die Ereignisse im Inneren des Häuschens live von einem geschäftigen Kamerateam übertragen werden. Dazu sind Streicher, Jazz, Easy Listening oder überschriller Rock zu hören.

Nein, die einst großen Ideen und Kämpfe sind zu Alltagsbanalitäten verkommen, die Geschichte ist vorangeschritten: „Die Bettler werden die Aktionäre vernichten – aber was kommt danach?“, heißt es einmal skeptisch. Mit Revolution oder dem Aufgehen des russischen Volks in einem geeinten Europa liebäugelt man immer mal wieder – doch dann kommen regelmäßig Verrat und persönliche Leidenschaften dazwischen.

Die Inszenierung franst am Ende ein wenig aus, es könnte wohl ewig so weitergehen. Arkadij hat ein Einsehen: „Ich glaube, wir sollten das Publikum zur Ruhe kommen lassen.“ Die gönnt man dem hervorragenden Ensemble, das dieses hohe Energie-Level so lange aufrechterhalten hat, aber auch. Zusammen mit Castorf wird es völlig zu Recht gefeiert.

Sechs Stunden (Pause nach drei Stunden). Weitere Vorstellungen Sonntag, 11. November, 16 Uhr, und Samstag, 29. Dezember, 18 Uhr

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort