Debatte Corona und Grundwerte

Der Bonner Philosophie-Professor Martin Booms macht sich Gedanken über eine liberale Bewährungsprobe: Grundwerte in Zeiten der Corona-Pandemie. Es drohe ein Dammbruch, warnt er.

 Corona-Polizei: Beamte zu Pferd im Englischen Garten in München.

Corona-Polizei: Beamte zu Pferd im Englischen Garten in München.

Foto: AP/Matthias Schrader

Die epidemische Ausbreitung des Corona-Virus ist eine historische Herausforderung für Politik und Wirtschaft, Gesundheitssysteme und soziale Strukturen. Aber es steht noch mehr auf dem Spiel: Die Krise ist bereits mutiert und entwickelt sich zusehends zu einer Bewährungsprobe für die liberalen Prinzipien und ihre ethischen Fundamente, auf denen unsere Gesellschaft aufbaut. Sollte diese Wertegrundlage nachhaltig infiziert werden, droht nach der biologischen eine ideelle Pandemie, die – wenn nicht frühzeitig eingedämmt – den Globus noch weit schwerer und am Ende tödlicher heimsuchen könnte als jedes biologische Virus.

Die Seuche des Illiberalismus ist schon lange vor Covid 19 ausgebrochen. Im Brutklima eines global grassierenden Autokratismus, aber auch eines kruden Ökonomismus trifft das Corona-Virus in den westlich-liberalen Demokratien auf einen bereits schwer atmenden Risikopatienten. Das Schicksal des Liberalismus und seiner Wertegrundlagen könnte sich im Angesicht der Corona-Krise jetzt schneller entscheiden als gedacht – mit noch offenem Ausgang. Erliegen wir jetzt der Versuchung, im Angstdruck der Krise unsere Grundwerte und verfassungsmäßigen Grundrechte der Krisenbewältigung bedingungslos aufzuopfern, ist der Patient tot. Und umgekehrt: Bewährt sich unsere freiheitlich-grundrechtliche Werteordnung jetzt in unsicherer Zeit, kann es zu einer freiheitlich-moralischen Wiederbelebung kommen, die weit über die aktuelle Epidemie hinaus Früchte tragen kann.

Wie gefährdet der Patient ist, zeigen dabei nicht nur die politischen, sondern auch die gesellschaftlichen Reaktionen auf die Krise. Das Ausmaß, in dem Menschen plötzlich bereit sind, ihre freiheitlichen Grundrechte bedingungslos der Seuchenbekämpfung unterzuordnen, ist mitunter befremdlich – selbst dann, wenn man die verordneten rigorosen Eingriffe in die Freiheitsrechte für unausweichlich und sachlich geboten hält. In einer gefestigten liberalen Gesellschaft kann man auch über solche rechtsstaatlichen Grenzüberschreitungen diskutieren – aber man muss eben auch darüber diskutieren, und man muss vor allem auch darüber diskutieren dürfen. Wer sich aktuell kritisch über solche Grundrechtseingriffe äußert, ist also keineswegs ein „Egoist“, der eigennützig seine individuelle Freizügigkeit über das Leben anderer stellt, sondern folgt einer im Grunde kerngesunden freiheitlichen Werteorientierung – einer Werteorientierung, die noch vor wenigen Wochen eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit war und die aus dem Blick zu verlieren für eine freie Gesellschaft tödlich wäre.

Umgekehrt bedeutet „Solidarität“ – ein schnell überstrapazierter und aktuell stark umdeutungsgefährdeter Begriff – auch in Zeiten der Gefahr nicht blinde, an Gehorsam grenzende Einstimmigkeit, die Andersdenkende sofort als vermeintliche Gemeinwohlschädlinge mit einem aggressiven Shitstorm meint überziehen zu dürfen. So etwas ist vielmehr die „chinesische“ Variante von Solidarität, bei der wahrlich keine soziale Herzenswärme aufkommen mag. Solidarität bewährt sich im Kleinen, im konkreten Alltagshandeln. Wer also blockwartmäßig draußen unterwegs ist, um die Corona-„Solidarität“ seiner Mitmenschen zu kontrollieren, sollte vielleicht zuerst im Supermarkt seine eigenen Verhaltensmaßstäbe im Angesicht des Klopapierregals auf den Prüfstand stellen.

Tatsächlich kann man in der aktuellen Situation nichts weniger gebrauchen als eine stromlinienförmige Einheitsmeinung. Denn: Niemand – auch kein Wissenschaftler – kann derzeit eindeutig sagen, welche Strategie zur Seuchenbekämpfung die richtige ist; wir wissen einfach zu wenig. Das gilt auch für das mittlerweile schon fast zur Staatsräson erklärte Konzept des radikalen Lockdown. Damit ist ausdrücklich nicht gesagt – weil auch der Philosoph hier keine höhere Wahrheit schaut (aber sich dessen immerhin bewusst ist) –, dass die Strategie der rigorosen Kontaktreduzierung falsch ist: sehr wohl aber, dass sie nicht absolut ist. Es war immer die Stärke einer offenen Gesellschaft, sich nicht an eine einzige Idee absoluter Wahrheit zu klammern, sondern sich im kritischen, multiperspektivischen Diskurs  der besten Lösung anzunähern. Das gilt auch, ja gerade in Zeiten der Corona-Krise unverändert fort. Alles andere wäre geradezu unverantwortlich.

Wir tun also gut daran, elementare Prinzipien der liberalen, offenen und kritischen Gesellschaft nicht nur zu verteidigen, sondern sie gerade jetzt offensiv zur Entfaltung zu bringen – nicht als vermeintlicher Hemmschuh, sondern als feste Grundlage der Krisenbewältigung. Das gilt in besonderer Weise für unsere freiheitlich-liberale Wertekultur mit ihrem Herzstück, dem in Artikel 1 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich verankerten Prinzip der Menschenwürde. Aktuell geraten allerdings Werteaspekte in der Corona-Debatte unter den Druck einer schon im Grundansatz  verfehlten Verrechnungslogik, die „Leben gegen Werte“ ausspielt. Mit dem fast schon mantramäßig vorgetragenen Verweis, es gehe doch schließlich „um Leben und Tod“, lässt sich jede Werte- wie auch Verhältnismäßigkeitsdiskussion aus dem Feld schlagen – im Zweifelsfall auch im Wortsinn. Dabei ist mit diesem Verweis ja noch keine einzige der Fragen beantwortet, die sich in diesem Zusammenhang stellen. Natürlich geht es „um Leben und Tod“ – aber was folgt daraus?  Das lässt sich offenkundig überhaupt nur auf einer verlässlichen Wertegrundlage bestimmen.

Nimmt man das Prinzip der Menschenwürde ernst, gilt dabei zunächst: Jedes gegenseitige Abwägen von Menschenleben verstößt gegen fundamentale ethische Richtlinien. Das Leben des schwerkranken 85-Jährigen ist genauso (absolut) wertvoll wie dasjenige der lebensstrahlenden 25-Jährigen. Insofern ist die sogenannte „Triage“, wie sie derzeit in Norditalien durchgeführt werden muss – die Abwägung, wer priorisiert mit lebenserhaltenden Maßnahmen versorgt wird und weiterleben darf –, nicht nur menschlich, sondern auch prinzipienethisch der totale Katastrophenfall.

Aber – und jetzt kommt der schwer verdauliche Teil: Aus dem Prinzip der absoluten (Gleich-) Wertigkeit von Menschenleben folgt ethisch nicht, dass jederzeit auch die Erhaltung der maximal möglichen Anzahl an Menschenleben geboten ist – jedenfalls nicht dann, wenn dieses Ziel gegen fundamentale Grundrechte verstößt. Das bedeutet in Bezug auf die Corona-Krise: „Flatten the curve“, das Herunterdrücken der epidemiologischen Kurve, ist aktuell zweifellos sinnvoll  und erstrebenswert – im Sinne unserer Grundrechts- und Werteordnung aber eben nicht um jeden Preis. Das mag auf den ersten Blick befremdlich klingen, wird aber plausibel, wenn man einen vergleichenden Blick auf eine schon früher geführte Grundwertedebatte wirft: nämlich die um die Terrorbekämpfung. Auch hier geht es um die Abwendung einer unmittelbaren, unverdienten Lebensgefahr für unschuldige Menschen – ein Anliegen, das jeder vernünftige Mensch sofort  unterstützen wird. Je weniger Opfer, desto besser – keine Frage. Und dennoch gibt es gute Gründe, warum auch in diesem Fall dem Rechtsstaat eben nicht jedes Mittel recht sein darf: selbst dann, wenn etwa durch rigide polizei- und überwachungsstaatliche Maßnahmen oder gar durch die Anwendung von Folter tatsächlich zahlenmäßig mehr Menschenleben gerettet werden könnten. Der Rechtsstaat muss das in einem gewissen Umfang aushalten können. Dagegen mag man emotional rebellieren, es entspricht aber unserer Verfassung und den ihr zugrunde liegenden Prinzipien – und das aus guten Gründen. Verwischt man nämlich die dort markierten ethischen Haltelinien, droht ein Dammbruch, bei dem am Ende die nur gut gemeinte Bekämpfung der Unmenschlichkeit dieser in Wirklichkeit überhaupt erst zum Durchbruch verhilft.

Ein analoger ethischer Maßstab gilt für die Bekämpfung der Corona-Seuche: Wenn wir an unserer Werte- und Grundrechtsordnung festhalten wollen – und alles spricht dafür, dies zu tun –, dann ist auch hier nicht jedes Mittel recht. Aber man  muss es klar sagen: Das kostet einen Preis. Und die Gesellschaft muss sich mit der Frage beschäftigen, ob sie ihn aushalten will und kann. Es hilft nicht, die Augen vor dieser brutalen Wahrheit zu verschließen: Einen Preis werden wir in jedem Fall bezahlen müssen. Denn stellten wir – ins Extreme gedacht – zur Bekämpfung der biologischen Seuche chinesische Verhältnisse mit unbeschränkten staatlichen Eingriffsrechten her, könnten wir möglicherweise mehr und schneller Leben retten – aber auf Kosten einer autoritären Kontamination unseres Wertefundaments.

Wäre es das wert?

Martin Booms ist Direktor der Akademie für Sozialethik und Öffentliche Kultur in Bonn und seit 2019 Professor für Philosophie an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter. In Bonn ist er bekannt durch seine öffentlichen Wintervorlesungen „Philosophie und Politik“ an der Universität Bonn sowie durch die Reihe „Philosophie im Kino“ in der Endenicher Harmonie.

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