Moderne Version "Anna Karenina" begeistert bei Ballett-Tagen

Hamburg · "Tatjana", "Peer Gynt" oder "Die Möwe": Der Hamburger Ballett-Chef John Neumeier hat schon viele Literaturvorlagen in Tanz umgewandelt. Jetzt hat sich der Altmeister an "Anna Karenina" gewagt - und gewonnen.

 Die Tänzer Edvin Revazov als Graf Wronski und Anna Laudere in der Titelrolle als Anna Karenina.

Die Tänzer Edvin Revazov als Graf Wronski und Anna Laudere in der Titelrolle als Anna Karenina.

Foto: Markus Scholz

Während draußen tausende Demonstranten gegen den G20-Gipfel durch die Innenstadt ziehen, wird in der Hamburger Staatsoper Wahlkampf gefeiert. Ein aalglatter Politiker im dunklen Anzug lässt sich nach einer Wahlkampfrede feiern, seine Anhänger halten Wahlplakate mit seinem Foto und "Vote Karenin" hoch.

Seine adrette Ehefrau im roten Kostüm bekommt nach der Rede einen Kuss auf die Wange, der kleine Sohn darf seinen Teddy hochstrecken. Nichts soll von der Inszenierung als "heile Familie" ablenken. Ein klein wenig habe er bei dieser Szene auch an US-Präsident Donald Trump und seine Ehefrau Melania gedacht, gibt Ballett-Chef John Neumeier zu.

Seine Uraufführung von Leo Tolstois Roman "Anna Karenina" als Ballett hat am Sonntagabend die 43. Hamburger Ballett-Tage eröffnet. Für die moderne und zeitlose Interpretation des weltberühmten Romans über Liebe, Moral und gesellschaftliche Konventionen im Russland des 19. Jahrhunderts gab es am Ende der dreistündigen Vorstellung stürmischen Beifall und Ovationen vom Premierenpublikum. Neumeier war nicht nur für die Choreografie, sondern auch für das Bühnenbild, Licht und Kostüme verantwortlich. Dazu wählte er Musik von Alfred Schnittke, Peter Tschaikowsky und Cat Stevens. Es spielte das Philharmonische Staatsorchester unter der Leitung von Simon Hewett.

"Diesen Roman kann man nicht vertanzen", hatte Neumeier bei einer Probe erklärt. Und es dennoch gewagt. Es sollte jedoch kein klassisches Handlungsballett werden, mit historischen Kostümen, sondern er wollte die Essenz des Romans, die Beziehungen, Gefühle und Gedanken der wichtigsten Figuren in Tanz umsetzen. Und das ist dem 78-jährigen Ballett-Chef mit Bravour gelungen: Die Zuschauer leiden förmlich mit den weiblichen Protagonisten mit - fühlen, wie Anna Karenina sich nach Liebe und Nähe sehnt und doch von ihrem Gatten (Ivan Urban) abgewiesen wird, wie sich Kitty (Emilie Mazon) nach der Zurückweisung durch Wronski zurückzieht und wie verzweifelt Dolly (Patricia Friza) nach der Untreue ihres Gatten um ihre Ehe kämpft.

Im strahlenden Mittelpunkt stehen jedoch Anna Karenina (Anna Laudere) und ihr Liebhaber Wronski (Edvin Revazov). Als sich die beiden zum ersten Mal zufällig am Bahnhof begegnen, ist es um sie geschehen. Als sie sich auf dem Ball wiedersehen, haben sie nur Augen für einander, lächeln sich die ganze Zeit an. Mit wenigen Gesten - wie er ihr zum Beispiel Feuer gibt - ist klar: hier sind zwei für einander bestimmt. Mit atemberaubenden Hebefiguren und erotischen Bewegungen wird ihre Leidenschaft spürbar, man merkt, dass die beiden Tänzer auch privat ein Paar sind. Als sie alleine sind, wirft er sich ihr mit nacktem Oberkörper zu Füßen, während ihr schwarzes Negligé sichtbar wird.

Doch der Preis für die leidenschaftliche Liebe ist hoch: Anna muss ihren geliebten Sohn Serjoscha (Maria Huguet) bei ihrem Ehemann zurücklassen, in der Abgeschiedenheit Italiens hat sich das einstige Liebespaar immer weniger zu sagen. Als sie nach Russland zurückkehren und sich die Gesellschaft abwendet, sieht Anna nur noch einen Ausweg - zuvor bereits durch den verunglückten Arbeiter (Karen Azatyan) angedeutet. Am Ende trauert auch Wronski um Anna, obwohl er sich schon längst anderweitig vergnügt hatte. Als Utopie über allem schwebt Lewin (Aleix Martinez), der sich zusammen mit Kitty in eine ländliche Idylle zurückgezogen hat.

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