Neu im Kino Schreien und schweigen

Bonn · Der Film „Einfach das Ende der Welt“ des 27-jährigen Kanadiers Xavier Dolan gibt einen eindrucksvollen Einblick in die Spannungen einer Familie. An die Kommunikationsform im Film muss man sich erst gewöhnen.

 Warum ist er fortgegangen? Antoine (Vincent Cassel, links) ist wütend auf seinen Bruder.

Warum ist er fortgegangen? Antoine (Vincent Cassel, links) ist wütend auf seinen Bruder.

Foto: dpa

Vor zwölf Jahren verließ Louis (Gaspard Ulliel) den Ort seiner Kindheit und meldete sich seitdem nur noch mit einsilbigen Postkarten zum Geburtstag oder aus dem Urlaub bei seiner Familie. Nun kehrt er zurück in die Provinz, weil er weiß, dass er sterben wird, und die tragische Nachricht selbst überbringen will. Zwölf Jahre sind eine sehr lange Zeit und während Louis in der fernen, großen Stadt als Schriftsteller und Theaterautor reüssierte, ist die Verwandtschaft über sein Verschwinden nie hinweg gekommen. Der verlorene Sohn und Bruder, von dessen Erfolgen Zeitungsberichte kündeten, hat eine schmerzende Leerstelle hinterlassen, die mit Trauer, Wut und einer Menge Projektionen gefüllt wurde.

Als Louis mit dem Taxi vorfährt, ist die Mutter Martine (Nathalie Baye) noch dabei, ihre Fingernägel mit dem Fön zu trocknen. „Du siehst aus, wie ein Transvestit“ brüllt ihre Tochter Suzanne (Léa Seydoux) sie durch das Dröhnen des Haartrockners hindurch an. Die Umgangsformen sind hart in dieser Familie. Kaum einer kann einen Satz zu Ende sprechen, ohne dass ein anderer ihn unterbricht. Alle scheinen nur noch genervt voneinander zu sein. Es wird viel gebrüllt. Kleinste Kleinigkeiten führen zu enormen Aggressionen. Schon nach wenigen Momenten versteht man, warum Louis nach seinem schwulen Coming Out die Flucht ergriffen hat und nicht wieder zurück wollte.

Sein älterer Bruder Antoine (Vincent Cassel) hat ihm nie verziehen. Er schaut ihn kaum an, blickt immer nervös aus dem Fenster, fällt der Schwester, der Mutter und seiner Frau Catherine (Marion Cotillard) mit hinein gebellten Kommentaren immer wieder ins Wort. Die jüngere Suzanne kennt den Besucher kaum, aber ihr Zimmer ist dekoriert mit Zeitungsartikeln über den erfolgreichen Autoren. Alle Postkarten von Louis hat sie fein säuberlich in einer Schachtel gesammelt. Sie träumt sich mit einem Joint in der Hand oft weg von diesem Ort und der große Bruder in der fernen Stadt ist eine Sehnsuchtsprojektion, die nun plötzlich zum Anfassen nah erscheint.

Die Mutter versucht in übersteuerter Lautstärke Harmonie zu stiften, erzählt Geschichten über Sonntagsausflüge, die keiner mehr hören möchte. Aber als sie Louis zu einer heimlichen Zigarette zu sich ins Zimmer ruft, wird bald deutlich, dass hinter der aufbrausenden Versöhnlichkeit viel Verletztheit, aber auch eine große emotionale Klarheit steckt.

Immer wieder tauchen in der chaotischen Familienaufstellung plötzliche Momente der Wahrheit auf, und es ist dieser dynamische Rhythmus zwischen versteckten und offenbarten Gefühlen, der Xavier Dolans „Einfach das Ende der Welt“ auszeichnet. Der franko-kanadische Regisseur hat im zarten Alter von 27 Jahren bereits sechs international erfolgreiche Filme gedreht und genauso wie sein Vorgänger „Mummy“ wurde auch dieser Film in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet.

Dolan, der hier ein Theaterstück von Jean-Luc Lagarce für die Leinwand adaptiert, hat sich aus dem Fundus des französischen Kinos eine hervorragende Besetzung zusammen gestellt, die sich hier beherzt um Kopf und Kragen spielen darf. Fast vollständig wird das Familiendrama in Nahaufnahmen und mit bewegter Handkamera ins Bild gefasst. Die Dialoge entwickeln einen enorme emotionale Authentizität, die Worte überschlagen sich, werden hinausgeschleudert, unvollendete Sätze bleiben schutzlos im Raum stehen, gefolgt von intensiven Momenten plötzlichen Schweigens.

Das ist anfangs anstrengend, aber wenn man sich allmählich in die krassen Kommunikationsformen der Familie eingehört hat, beginnt man unwillkürlich die Figuren mit all ihren Verletztheiten und Unzulänglichkeiten zu verstehen. Mit großer Genauigkeit und ohne Versöhnungsdruck zeigt Dolan die Beziehungsmechanismen einer Familienkonstellation, die vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten ist. Keine leichte Kost sicherlich, aber ein ungeheuer lebendiges, beherztes Stück Kino.

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