Beethoven-Haus Zuschlag für Entwicklung eines digitalen Forschungsprojektes

BONN · Wenn ein Klavierstück von Ludwig van Beethoven im Konzertsaal erklingt, kann das heiter oder melancholisch sein, Spaß machen oder auch eine bisweilen extreme intellektuelle Herausforderung bedeuten.

 Blick in die Kompositionswerkstatt Beethovens: Skizzen zu den Diabelli-Variationen op. 120 aus dem Skizzenbuch Engelmann (Beethoven-Haus, Bonn; Sammlung H. C. Bodmer, HCB Mh 60).

Blick in die Kompositionswerkstatt Beethovens: Skizzen zu den Diabelli-Variationen op. 120 aus dem Skizzenbuch Engelmann (Beethoven-Haus, Bonn; Sammlung H. C. Bodmer, HCB Mh 60).

Foto: Beethoven-Haus

Doch was im Konzertsaal im besten Falle so selbstverständlich, stimmig und musikalisch eloquent daher kommt, hat nicht selten eine extrem komplexe und unübersichtliche Entstehungsgeschichte hinter sich. Vom ersten vagen Einfall bis zur Uraufführung und Drucklegung hat Beethoven häufig Neuanläufe unternommen, Ideen verworfen oder immer wieder Änderungen vorgenommen.

Mit einem neuen und neuartigen Forschungsprojekt wollen die Wissenschaftler des Bonner Beethoven-Hauses solche Entstehungsprozesse beleuchten und sie nachvollziehen und für andere nachvollziehbar machen. Im Kern handelt es bei diesem Vorhaben ein Stück Grundlagenforschung, die den Weg für neue digitale Editionstechniken frei machen soll.

Vier Jahre lang hat der Bonner Musikologe Bernhard R. Appel gemeinsam mit Kollegen vom Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Paderborn und der Hochschule für Musik Detmold die Ideen und Konzepte für ein solches Projekt bei der Wissenschaftskonferenz des Bundes und der Länder vorgetragen. Jetzt erhielten sie den Zuschlag: Die Wissenschaftskonferenz hat die Förderung des Projektes beschlossen. Es wird auf 16 Jahre angelegt sein.

Das Beethoven-Projekt sei Teil eines der größten geisteswissenschaftlichen Forschungsprogramme der Bundesrepublik Deutschland, teilte die Sprecherin des Beethoven-Hauses Ursula Timmer-Fontani gestern mit. Es handele sich dabei um das Akademienprogramm 2014 der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften (Mainz) mit einem Gesamtvolumen von rund 60 Millionen Euro.

Das Beethoven-Projekt mit dem Titel "Beethovens Werkstatt: Genetische Textkritik und Digitale Edition" sei an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz angesiedelt und werde von ihr koordiniert, teilte Timmer-Fontani mit. Neben Bernhard R. Appel, Leiter des Beethoven-Archivs und Verlags, wird das Vorhaben von Joachim Veit, dem Editionsleiter der Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn, geleitet.

Die Förderung ist mit jeweils vier neuen Arbeitsplätzen für beide Institute verbunden, die sich auf jeweils zwei neue Mitarbeiterstellen und zwei Qualifizierungs- beziehungsweise wissenschaftliche Hilfskraftstellen verteilen. Das Fördervolumen entspricht für Bonn und Detmold einer jährlichen Summe von 382 000 Euro und einer Gesamtsumme auf die gesamte Laufzeit von 6,1 Millionen Euro. "Für das Beethoven-Haus ist der Zuschlag dieses zukunftsweisenden Projektes in das Akademieprogramm inhaltlich und finanziell von herausragender Bedeutung", erklärt Malte Boecker, Direktor des Beethoven Hauses. "Das Forschungsprofil des Beethoven-Hauses wird damit nachhaltig ausgebaut."

Mit der digitalen Technik eröffnen sich der Philologie ganz neue Möglichkeiten, erläuterte Appel gestern. Aber: "Alles was neu ist, hat historische Wurzeln", sagt er. Das neue Projekt beruft sich da auf die philologische Skizzenforschung, die im Beethoven-Haus schon aufgrund der vorhandenen Materialfülle eine lange Tradition hat.

Sie wird eine Verbindung mit der genetischen Textkritik eingehen, die aus Skizzen, Notizen, Handschriften und Korrekturen Arbeitstechniken und -routinen des Komponisten rekonstruiert. Was ist in Beethovens Kopf vom ersten Einfall bis zum fertigen Werk vorgegangen? Wie kommt die Musik aufs Papier? Appel und seine Kollegen wollen mit Hilfe digitaler Techniken dieser zentralen Fragestellung nachgehen. Dass am Anfang die geniale Eingebung steht, die das Genie lediglich gleichsam mit der Feder vom Kopf aufs Papier übertragen muss, hält Appel für die Ausnahme.

"Beethoven hat je nach Gattung ganz unterschiedlich gearbeitet", erläutert Appel. Während bei Variationswerken das Thema als Ausgang in den Arbeitsprozessen immer als "Stammblatt" zu erkennen sei, habe er in den Quartetten gleich auf allen vier Notensystemen notiert und zunächst "mäandernde Leitstimmen" über die Systeme verteilt und sie in weiteren Arbeitsschritten immer mehr aufgefüllt. "Beethoven tritt so mit dem Notentext in einen permanenten Dialog", sagt Appel.

Solche hochinteressanten und komplexen Arbeitsschritte sollen in einer digitalen Edition sichtbar gemacht werden. Selbst filmische Wiedergaben von Entwicklungsprozessen des Werkes könnten in einer digitalen Edition möglich sein. Wesentlich sind auch aufwendige Suchfunktionen, die eine "semantische Codierung" des gesamten Materials bedingen. Auf der Grundlage des in den USA entwickelten Codierungsformat MEI (Music Encoding Initiative) kann gezielt nach musikalischen Motiven oder rhythmischen Mustern gesucht werden. "Alles kann hier mit allem verknüpft werden", hebt Appel die Vorteile der digitalen wissenschaftlichen Edition gegenüber einer gedruckten hervor. Als Muster-Edition sollen übrigens die Diabelli-Variationen herausgegeben werden.

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