Premiere Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ im Kölner Opernhaus

Köln · Bernd Alois Zimmermanns kolossales Jahrhundertwerk "Die Soldaten" ist in Köln in einer grandiosen Neuinszenierung von Carlus Padrissa zu erleben.

 Verschmähter Liebhaber: Nikolay Borchev als Stolzius, hinter ihm steht Dalia Schaechter als seine Mutter.

Verschmähter Liebhaber: Nikolay Borchev als Stolzius, hinter ihm steht Dalia Schaechter als seine Mutter.

Foto: Paul Leclaire_Köln

Am Ende der Uraufführung von Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“, die 1965 im Kölner Opernhaus stattfand, wurde das Publikum von einem Heer von Scheinwerfern mit grellem weißen Licht geblendet, ein Schockeffekt, der auch ein halbes Jahrhundert später noch seine Wirkung nicht verfehlt, wie das Premierenpublikum bei der Neuinszenierung des Werkes im Kölner Staatenhaus am Sonntagabend am eigenen Leibe erfahren durfte. Dem gleißenden Lichteffekt waren mehr als zweieinhalb Stunden expressives Musiktheater vorausgegangen, das wohl niemanden im Saal unberührt gelassen haben dürfte. In den großen Beifall mischten sich nur ein paar wenige Buhs für Regisseur Carlus Padrissa.

Natürlich ist Zimmermanns Jahrhundertwerk auch immer eine Zumutung. Nicht nur wegen des riesigen Orchesters mit fast 200 Musikern, die zum Teil markerschütternde Klangballungen produzieren, sondern vor allem auch wegen der kompositorischen Dichte, die der vor hundert Jahren im heutigen Erftstadt geborene Zimmermann ins Werk setzte, um das Drama des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz auszudeuten. Der Avantgardist Zimmermann erkannte in Lenz' „Soldaten“ die bereits sehr modern erscheinende Aufhebung der aristotelischen Einheit von Ort, Zeit und Handlung, weshalb er mit der Tragödie seine Vorstellung von der „Kugelgestalt der Zeit“ verwirklichen zu können dachte: auf der Handlungsebene mit Simultanszenen und in der Musik beispielsweise durch die Verwendung von Zitaten aus mehreren Jahrhunderten Musikgeschichte.

Die Idee von der Kugelgestalt der Zeit

Regisseur Padrissa von der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus, der das Werk zusammen mit seinem Bühnenbildner Roland Olbeter in Szene gesetzt hat, kommt Zimmermanns philosophischem Gedankenspiel auf eine fast ideale Weise nahe. Gerade auch in dem ungewöhnlichen Bühnenaufbau, der in einem klassischen Opernhaus gar nicht zu realisieren wäre. Für das Staatenhaus haben sie einen Theaterraum entworfen, wo Publikum und das komplett sichtbare Riesenorchester von einer Galerie umgeben und eingefasst werden, deren Rückwand eine durchlaufende Videoprojektionsfläche ist. Die weitaus größten Teile der Handlung spielen auf der Galerie, häufig an mehreren Stellen zugleich, in vielen Abschnitten, wie von Zimmermann vorgesehen, ergänzt durch Filmeinspielungen. Das Publikum verfolgt das Geschehen auf der 360-Grad-Bühne von drehbaren Stühlen aus, so dass sich jeder ganz individuell immer dem Ort seines Interesses zuwenden kann. Auch die Anachronismen der Inszenierung unterstützen Zimmermanns Idee des gleichzeitig Ungleichzeitigen, wenn Padrissa zum Beispiel Soldaten in Uniformen aus der Entstehungszeit des Lenzdramas und UN-Blauhelme auftreten lässt (Kostüme: Chu Uroz).

Die Geschichte selbst erscheint weniger komplex als Zimmermanns überbordender kompositorischer Werkzeugkasten nahelegen würden. Nicht von ungefähr galt die Oper lange als unspielbar. Es geht um das Mädchen Marie, das mit dem guten Tuchmacher Stolzius verlobt ist, sich aber – durchaus mit nicht ganz selbstloser Unterstützung des Vaters – auf ein Abenteuer mit höher gestellten Baron Desportes einlässt. Sie macht sich Hoffnung auf ein besseres Leben, er aber lässt sie schon bald wieder fallen und reicht sie an eine Reihe von Soldaten weiter, bis sie am Ende in die Hände von Desportes' Jäger gerät, der sie brutal vergewaltigt. Dass dieser gewalttätige Kerl in Padrissas Inszenierung von Pussy-Riot-Aktivistinnen in die Flucht geschlagen wird, ist nur ein schwacher Trost. Denn am Ende sieht man Marie dennoch mit zerrissenen, blutbefleckten Kleidern zur gewaltigen, multimedialen Klang-, Text- und Bildcollage des „Nocturno III“ sich als Bettlerin über die Galerie schleppen und ihren Vater, der sie nicht mehr erkennt, um vergeblich ein Almosen bittet.

François-Xavier Roth organisiert die Klänge mit größter Perfektion

In dieser Szene fährt Zimmermann noch einmal alle Mittel auf. Die Klangschichten aus dem Orchester verbinden sich mit den Surroundsounds von Zuspielbändern, jazzige Einwürfe mit der Rezitation des „Pater Noster“. Alles zusammengenommen ist dies ein einziger überzeitlicher Aufschrei gegen die Gewalt. Das Gürzenich-Orchester leistet an diesem Abend eine überwältigend gute Arbeit. Es ist schlichtweg verblüffend, mit welcher Klarheit, Deutlichkeit und mit Expressivität die Musik in dieser Produktion erklingt. Gürzenich-Chef François-Xavier Roth organisiert das Klanggeschehen mit größter Perfektion, wobei er sich auf die Mitarbeit dreier Hilfsdirigenten und die technische Unterstützung einiger Monitore verlassen kann. Die Musik Zimmermanns ist bei aller Raffinesse keineswegs zu verkopft, sie geht vielmehr sofort unter die Haut, schon wenn zu Beginn im Preludio die Pauke das Orchester im Sekundentakt vor sich her treibt, aber auch in den ruhigeren Momenten, die es in diesem Werk durchaus auch sehr viele gibt.

Eine Riesenherausforderung ist die Oper auch für die Sänger. Sie müssen oft in die Extreme gehen, sich permanent kühnste Intervalle zum Besten geben. In Köln haben sie ein bis in die kleinste Rolle hinein großartiges 20-köpfiges Solistenensemble zur Verfügung. Als Marie beeindruckt und bewegt die Sopranistin Emily Hindrichs, der Bariton Nikolay Borchev als ihr Verlobter Stolzius gibt ebenfalls eine emotional tiefe Vorstellung, der aus Bonn stammende Bassist Frank Hove verleiht dem alten Wesener angemessen zwiespältige Züge. Der Tenor Martin Koch tritt als Schürzenjäger Desportes ebenso selbstbewusst wie rücksichtslos in Erscheinung. Auch Judith Thielsen (Charlotte), Dalia Schaechter (Stolzius' Mutter), Sharon Kempton (Gräfin), John Heuzenroeder (Pirzel), Miljenko Turk (Haudy), Oliver Zwarg (Eisenhardt), Wolfgang Stefan Schwaiger (Mary) und Solisten, Chorsänger, Tänzerinnen und Statisten machen den Abend zu einem Ereignis, das mit einem utopischen Ausblick endet: Im Schlussbild hängen alle Soldaten an Stricken. Ob die Welt ohne sie tatsächlich eine friedlichere wäre, ist allerdings fraglich.

Weitere Termine im Staatenhaus: 3., 11., 13., 17. und 20. Mai. Alle Vorstellungen sind bis auf wenige Restkarten ausverkauft.

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