100. Geburtstag Yehudi Menuhin: Der große Lord

Bonn · Er war ein bedeutender Geiger und ein Botschafter der Versöhnung und der Menschlichkeit: Am 22. April wäre Yehudi Menuhin 100 Jahre alt geworden.

 Yehudi Menuhin.

Yehudi Menuhin.

Foto: picture-alliance / obs

Es ist begreiflich, dass der Dirigent Fritz Busch ein wenig skeptisch war, als man ihm den gerade einmal elfjährigen Yehudi Menuhin als Solisten für Beethovens Violinkonzert vorschlug. „Man lässt ja auch Jackie Coogan nicht den Hamlet spielen“, wehrte er das Ansinnen argumentativ ziemlich schlagkräftig ab. Was aber nichts half. Während Coogan, der als Titelheld neben Charlie Chaplin in „The Kid“ zu Weltruhm gelangt war, den Hamlet natürlich nicht spielte, gelang es dem Knaben Yehudi bei einem Vorspiel in Buschs Hotel, den zweifelnden deutschen Maestro zu überzeugen. „Yehudi spielte so herrlich und vollendet, dass ich mich bereits beim zweiten Tutti geschlagen gab. Dies war die Vollkommenheit“, sagte Busch später. Das Konzert am 25. November 1927 in der New Yorker Carnegie Hall, ein Debüt für beide Musiker, wurde zu einem triumphalen Erfolg.

Seither reiste Yehudi Menuhin, der am 22. April 1916 als Sohn weißrussischer Rabbiner-Nachfahren in New York zur Welt kam und in San Francisco aufwuchs, als Wunderkind um die Welt. Bald schon entstand die noch heute wahnwitzig anmutende Idee, den Jungen in Berlin an einem Abend jeweils ein Violinkonzert der drei großen „Bs“ Bach (das in E-Dur), Beethoven und Brahms spielen zu lassen. Bruno Walter stand am Pult der Philharmoniker. Nur wer ohne Herz war, konnte an diesem Abend nicht berührt gewesen sein. Für den Physiker Albert Einstein, der ebenfalls im Publikum saß, war dieser Junge der lebende Beweis dafür, „dass es einen Gott im Himmel gibt“.

Doch so vollkommen, wie sein Ruf es den Anschein machte, war Menuhins Spiel keineswegs. Der belgische Geigen-Guru Eugène Ysaÿe verlangte einmal von dem Wunderkind, einen A-Dur-Dreiklang durch vier Oktaven zu spielen. Diese technische Übung, die mit Musik freilich nichts zu tun hatte, überforderten den kleinen Yehudi. „Ich tappte auf dem Griffbrett herum wie eine blinde Maus“, erinnerte er sich an diese für ihn traumatische Begegnung. Ysaÿe habe ihm dann empfohlen „Tonleitern und Arpeggien zu üben“.

Menuhin, der das bedeutendste Wunderkindereignis des 20. Jahrhunderts gewesen ist, litt zeitlebens darunter, dass er die Technik des Geigenspiels nicht methodisch genug erlernt hatte. Mit 20 Jahren nahm er zum ersten Mal eine Auszeit vom Podium. Er sollte in seinem Leben noch mehrere solcher künstlerischer Krisen durchleiden. Vielleicht aber war diese Unvollkommenheit auch Teil des Geheimnisses seines außergewöhnlichen Spiels, seiner unvergleichlichen Musikalität. Sein Ton sei immer „ausdruckshungrig, nie ausdruckssatt“ gewesen, charakterisiert der Autor Harald Eggebrecht das Klangphänomen Menuhin. Das gilt ebenso für die frühe Einspielung der Solo-Sonaten und -Partiten von Johann Sebastian Bach wie für Béla Bartóks Solosonate, die der Komponist kurz vor seinem Tod für Menuhin komponierte.

Menuhin begnügte sich nicht damit, einfach nur Musiker zu sein, sondern verstand sich immer auch als Botschafter. Seine Auftritte waren oft von einer Mission erfüllt. Mit ihm trat erstmals nach dem Krieg ein bedeutender Musiker jüdischen Glaubens in Deutschland auf. Er freundete sich mit Wilhelm Furtwängler an und spielte 1945 für Befreite aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen. Und er entdeckte für Deutschland die Musik des im Dritten Reich verfemten Felix Mendelssohn-Bartholdy neu. Seine Weltoffenheit führte ihn zu seinem russischen Freund und Kollegen David Oistrach, und auch zum indischen Sitarspieler Ravi Shankar, mit dem er ebenso zusammen musizierte, wie mit dem Swing-Geiger Stéphane Grappelli. Dafür lieben ihn bis heute seine jüngeren Protegés Daniel Hope oder Nigel Kennedy, die auch in dieser Hinsicht sehr viel von ihrem Mentor gelernt haben.

Mit Hope als Solisten trat der am 12. März in Berlin gestorbene Menuhin als Dirigent nur wenige Tage vor seinem Tod noch einmal in der Kölner Philharmonie auf. Auch in Bonn war Menuhin häufig zu Gast, dirigierte unter anderem 1985 an der Oper Mozarts „Titus“. Bereits 1959 hatte er in der gerade eröffneten Beethovenhalle das Violinkonzert Beethovens gespielt. Ein Benefizkonzert mit dem Beethoven Orchester 1991 wurde in dieser Zeitung unter dem Titel „Botschaft der Brüderlichkeit“ besprochen. Für Menuhin war Musik ein Akt gelebter menschlicher Gemeinschaft. Ihm lag der Nachwuchs am Herzen, und er hat sich um die Verbreitung von Musik verdient gemacht. Menuhin, der seit 1970 Schweizer und seit 1985 britischer Staatsbürger war und zum Lord geadelt wurde, gründete 1977 in England den auch in Deutschland aktiven Verein „Live Music Now“, der Musik zu Menschen bringt, die nicht die Möglichkeit haben ins Konzert zu gehen.

Dass der in zweiter Ehe mit der Tänzerin Diana Gould verheiratete Musiker diese Menschlichkeit nicht ins Herz der Familie einpflanzen konnte, ist sicher eine tragische Note in der Lebenspartitur des großen Musikers und Menschen. „Er hatte mehr Interesse am großen Ganzen“, sagte sein Sohn, der Pianist Jeremy Menuhin, in einem Interview. Der Vater konnte jedenfalls nicht verhindern, dass Jeremys Bruder, Gerard Menuhin, in den vergangenen Jahren vor allem durch seine enge Verstrickung mit der rechtsradikalen Szene aufgefallen ist.

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