LVR-Landesmuseum in Bonn Wilde Grüße aus dem Delirium

BONN · Am 15.3.1969 habe ich die Orien-Tierung verloren", steht unter einem in der Art von Mirò glutrot gehaltenen Bild mit Tentakeln, aus denen kleine Totenköpfe sprießen. 1993 hat Blalla W. Hallmann dieses Bild gemalt. Da hatte er die schlimme Zeit der wohl durch einen USA-Aufenthalt ausgelösten schizophrenen Psychose, der schweren Abstürze und Klinikaufenthalte hinter sich, hatte im Wahn sein gesamtes verfügbares Frühwerk vernichtet.

 Bild gewordener Albtraum: Blalla W. Hallmanns Gemälde "Die einsame Angst und Verzweiflung des Louis Soutter", 1985, aus der Sammlung des Kölner Arztes Hartmut Kraft.

Bild gewordener Albtraum: Blalla W. Hallmanns Gemälde "Die einsame Angst und Verzweiflung des Louis Soutter", 1985, aus der Sammlung des Kölner Arztes Hartmut Kraft.

Foto: LVR-Landesmuseum

Drei Jahre nach dem roten Bild setzte sich Blalla in einem Anflug akuter Schaffenswut hin und zeichnete sich unter dem Titel "Der Weg, die Wahrheit und das Leben" sein Leben von der Seele, rekapitulierte in 149 Linolschnitten, was ihm seit seiner Geburt widerfahren war. Mit "Welche Teufel mich auf die Erde zerrten, weiß der Himmel! Schwere Steißgeburt an einem Sonntagmorgen im März 1941" startet die Höllenfahrt durch Blallas Leben. Mit einem unverhohlen mit Nazi-Ikonografie kokettierenden Blatt "Heim, mir reicht's" schließt der Künstler 54-jährig seinen Bericht ab.

Erstmals wurden nun Texte und Blätter dieser brachialen Tour d'horizon gemeinsam und komplett publiziert. Das LVR-Landesmuseum zeigt den einzigartigen Zyklus aus der Sammlung Hartmut Kraft, die auch Gemälde und Zeichnungen umfasst, im Rahmen der "Szene Rheinland" unter dem Titel "Ecce Blalla! Abstürze und Höhenflüge".

Im Rheinland, im Brühler Atelier, traf der Kölner Nervenarzt, Psychoanalytiker und Sammler Kraft 1983 den Maler Wolfgang Ewald Hallmann, genannt Blalla. Kraft arbeitete damals an seinem Buch über "Grenzgänger zwischen Kunst und Psychiatrie". Es war eine Zeit als die "Kunst der Geisteskranken", die der "Outsider" und die "Art Brut" neu bewertet wurden. Was jetzt wieder geschieht: Massimiliano Gioni öffnet in seiner umfassenden Ausstellung im Zentrum der diesjährigen Kunstbiennale in Venedig den Blick für die Lebens- und Weltmodelle der "Outsider".

Hallmanns gewaltiger und gewalttätiger Bilderbogen, der nichts auslässt, ob pornografisch oder politisch unkorrekt, und letztlich auch dem Protagonisten Blalla nichts erspart, hätte gut in Gionis Ausstellung gepasst. Virtuos bewegen sich seine Blätter im Fundus der Geschichte der Mediums: Man erkennt Anregungen durch die Bildpolemik früher Drucke aus der Reformationszeit, fühlt sich an die Deutlichkeit und Naivität christlicher Votiv-Tafeln erinnert.

Hallmann setzt Fotografien, wie den Schnappschuss des Kölner Fotografen Dietmar Schneider, der Blalla auf dem Klo ablichtete, in Linoldrucktechnik um, und er lässt sich von Porno-Magazinen zu detailversessenen Zeichnungen inspirieren. Sex spielt in seinem tagebuchartigem Zyklus ebenso eine wichtige Rolle wie die Verbildlichung nächtlicher Albträume und Wahnschübe.

Der Besucher der exzellenten Ausstellung erlebt durch den Zyklus Hallmanns bizarre Lebensgeschichte, die im Niederschlesischen beginnt, die Entbehrungen der frühen Nachkriegszeit schildert. Der Vater stirbt früh an den Folgen von Kriegsverwundungen. 1957 beginnt Hallmann ein wenig erfolgreiches Kunststudium in Düsseldorf, geht dann an die Nürnberger Kunstakademie. "Ich bin ein leicht erregbarer Mensch, ständig in die schönsten Frauen verliebt, mit Herzbruch und so", schreibt er 1963.

Das Bild dazu zeigt ein Porno-Modell. Blallas Bilderbogen steigt mit simplen und unglaublich komplexen Blättern hinab in das Delirium von Alkohol, Drogen und Wahnsinn - und wieder hinaus. Als er 1996 seinen Zykus schuf, muss Hallmann schon geahnt haben, dass er nicht mehr lange leben würde, meint der Sammler Kraft. Nur so sei diese künstlerische Explosion zu erklären. Ein Jahr später erlag Blalla W. Hallmann 56-jährig in Windsheim einer Krebserkrankung.

Info: LVR-Landesmuseum, Colmantstraße 14-16; bis 5. Januar. Katalog (Salon Verlag) 39,80 Euro. Eröffnung: heute, 19 Uhr

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