Vom leeren Schaukelstuhl

Marcel Cremer inszeniert "Das Pferd aus Blau" in der Bonner Brotfabrik

Bonn. "Großvater fand überall Geschichten", erzählt die junge Frau in dem großen Zelt, das das belgische Theater Agora für "Das Pferd aus Blau" auf die Brotfabrikbühne gebaut hat.

Durch die Mitte führt ein breiter blauer Weg, der eine Blumenwiese sein kann oder ein rauschender Bach oder ein Wolkenhimmel oder eben nur der Ort, wo Großvaters Geschichten nicht verloren gehen. Marcel Cremers neues Stück, das am Sonntag unter seiner Regie in der Beueler Brotfabrik Premiere feierte, ist ein kleines poetisches Theaterwunder - nicht nur für Kinder.

Aus den traumverlorenen, durch Gebärdensprache versinnlichten Wörtern entstehen Gestalten und Bilder. Erzählerin Daniela Scheuren und ihr stummer Mitspieler Roland Schumacher tanzen durch die Jahreszeiten und die Lebensalter zwischen Schaukelpferd und Schaukelstuhl. Sie spielen mit eigenen und fremden Erinnerungen und zeigen anrührend den Schmerz der Vergänglichkeit und der Unwiederbringlichkeit der Zeit.

Dennoch ist Opas leuchtendes Hochzeitsfest plötzlich ebenso pure Gegenwart wie ein summender Brummkreisel. Katja Rixen hat die Musik dazu komponiert, ausgeführt von Roger Hilgers am Keyboard, Roland Schumacher mit singender Säge und Alexandra Schumacher mit diversen Instrumenten für Vogelgezwitscher und Wassergeplätscher.

Ein unmittelbar sichtbares blaues Pferd gibt es nicht auf dem blauen Bühnenboden und den Plakaten der Künstlerin Sabine Rixen, dafür aber unendlich viele Farben. Und schließlich füllt sich die Bühne mit einer riesigen Herde von bunten Schaukelpferden mit so schönen Namen wie Tante Praline, Ratz Fatz oder Chilischote Coyote. Ein Antiquitätenschatz, der von den jungen Zuschauern nach der Vorstellung begeistert unter den Sattel genommen wurde und die älteren träumen ließ von ihren frühen hölzernen Gefährten.

Ganz am Ende öffnet sich der rote Samtvorhang und gibt den Blick auf eine kleine Bühne frei, wo Großvaters leerer Stuhl sachte vor sich hin schaukelt. Nach fünfzig bezaubernden Minuten ist man jedoch ganz sicher, dass er dort war und dass Geschichten im Gegensatz zu all den profanen Gegenständen nicht verloren gehen können, sondern die Zeit aufheben.

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