"Vergissmeinnicht" fasziniert das Publikum im Theater im Ballsaal

Es schmerzt, wenn eine nahe Person fremd wird. Es irritiert, wenn die eigene Wahrnehmung unversehens Löcher bekommt, Menschen und Gegenstände ihre Kontexte verlieren und ganz andere Bedeutungen erhalten.

 Verschmitztes Pathos: Annabel Céline Cuny und Roland Silbernagl.

Verschmitztes Pathos: Annabel Céline Cuny und Roland Silbernagl.

Foto: Sonja Frohoff

Bonn. Es schmerzt, wenn eine nahe Person fremd wird. Es irritiert, wenn die eigene Wahrnehmung unversehens Löcher bekommt, Menschen und Gegenstände ihre Kontexte verlieren und ganz andere Bedeutungen erhalten.

Es kann freilich auch sehr komisch sein, wenn die Dimensionen von Raum und Zeit sich verschieben und das Gehirn sich seltsame Wege jenseits des Verstandes sucht. Es darf also durchaus gelacht werden bei dem Stück "Vergissmeinnicht", das die Regisseurin Barbara Wachendorff zusammen mit dem Dramaturgen Joachim Henn entwickelt hat.

Das Bühnenbild - ein paar Stühle und ein Tanzteppich - ist schlicht, weil die Produktion für viele Orte tauglich sein soll. Entstanden ist das Drama aus einer langen Beschäftigung mit Demenzkranken, ihren Angehörigen und Betreuern.

Linktipp: Weitere Infos unter vergissmeinnicht-das-stück.deDie in Gesprächen gesammelten Texte entfalten eine sehr eigene Poesie mit überraschenden Bildern und absurden Verknüpfungen, die in kleinen Szenen Zustände evozieren und spielerisch sensibel beleuchten.

Der Schauspieler Roland Silbernagl und die Tänzerin Annabel Céline Cuny agieren aus der Perspektive der Figuren und ziehen die Zuschauer mit in die wechselnden Situationen. Bei aller Betroffenheit bleiben es immer Theatersituationen, die ihre Künstlichkeit nicht verleugnen.

Schauspiel macht Erinnertes gegenwärtig, bei Demenzpatienten fließt oft die Vergangenheit unmittelbar in die Präsenz. Wie das Rauschen von Wasser, das man auf der dunklen Bühne anfangs hört, ohne die Quelle definieren zu können.

Die Putzfrau mit dem Eimer verwandelt sich flugs in die Ärztin, die bedrohlich zur Spritze greift. Der Mann scheint sich vor beiden zu fürchten, kramt Briefe aus einer irgendwie vertraut erscheinenden Tasche, die aber aus einem möglicherweise fremden Leben stammt.

Die Frau verliert plötzlich das Gleichgewicht und ist seine alte Mutter, die sich an ihn klammert und ihn im nächsten Moment von sich stößt. Er wird zum vierjährigen Jungen, der verzweifelt seinem Harndrang nachgibt, von der Mutter beschimpft und schließlich doch zärtlich getröstet wird.

Cuny wechselt gelegentlich in ihre französische Muttersprache, die ihr Partner eher gestisch als semantisch begreift. Silbernagl ist mal ein hilfloses Kind, mal ein Greis und mal der erwachsene Sohn, der seiner Mutter als witziges Spiel im Spiel auf Österreichisch eine ganze Szene liefert, um ihr die Angst vor einem imaginierten großen Hund zu nehmen.

Sie spielen mit verschmitztem Pathos lustvoll Schokoladekochen, bis die Frau - in klassischer Ballettmanier auf der Spitze - als böse Märchenköchin herumtanzt und den Mann mit Löffeln traktiert. Sie nervt ihn, wenn sie mit fröhlicher Schamlosigkeit von allen möglichen Objekten behauptet: "C'est un pénis avec ses testicules".

Oder den herzhaft geschminkten Mund zum Kuss spitzt, um dann nach dem Lippenstift zu beißen. Weil die Grenze zwischen Sagbarkeit und Empfindung sich auflöst, Wörter sich geradezu physisch aufladen und unvermeidliche körperliche Kontakte tiefe Sehnsüchte und Ängste wecken, erscheinen schlichte Pflegemaßnahmen plötzlich als sexuelle Annäherung oder Aggression.

Wachendorffs Inszenierung zeigt den Verlust der bewussten Identität ohne jede Peinlichkeit oder Larmoyanz als eine spannende Denkmöglichkeit, die in einer alternden Gesellschaft ganz real neue Formen der emotionalen Zuwendung erfordert. Theatral ist das ein faszinierend paradoxer, künstlerisch vielschichtiger Essay über die Orientierungslosigkeit.

Für die meisten Zuschauer bei der Bonner Premiere im restlos ausverkauften Theater im Ballsaal, die nach der Vorstellung noch lange mit dem Team diskutierten, war es vor allem ein Blick auf die sozialen Probleme, die die kontinuierlich wachsende Zahl von Demenzkranken mit sich bringt.

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