Buchtipp Ungehemmte Augenlust

Bonn · Zum 100. Geburtstag von Helmut Newton erscheint der Foto-Band „Pola Woman“ neu. Klaus Honnef stellte Newton 1987 in Bonn aus.

 Helmut Newtons Polaroid „Jerry Hall in Cesars Palace, Las Vegas“ zeigt eine surreale Szene, die nicht ohne Witz die Inszenierung von Leibern zelebriert.

Helmut Newtons Polaroid „Jerry Hall in Cesars Palace, Las Vegas“ zeigt eine surreale Szene, die nicht ohne Witz die Inszenierung von Leibern zelebriert.

Foto: Helmut Newton

Da liegt sie hingegossen auf einem Liegestuhl an der Küste von Monte Carlo: Iman, eine der schönsten Frauen der Welt, von 1992 bis zu dessen Tod 2016 Muse und Gattin von David Bowie, bis auf die Sonnenbrille fast nackt in einer Traumlandschaft. Ein Foto von Helmut Newton, 1989 für die amerikanische Ausgabe der Vogue entstanden. Dort war man nicht begeistert: „No nipples, please“, hieß es. Newton notiert zu dem Bild: nicht publiziert, natürlich.

Es gibt viele solche Notizen, mit denen Newton seine Polaroids kommentierte. Polaroids waren für ihn fotografische Skizzen, Handwerkszeug, erste Studien, die er zum Beispiel den Auftraggebern vorlegte. Im Oktober würde Newton 100. Anlass für den Verlag Schirmer/Mosel bereits jetzt ein Meisterwerk von 1992 neu aufzulegen, „Pola Woman“, eine hochinteressante Sammlung von Polaroids, die quasi einen Blick in Newtons Werkstatt erlaubt. Die Bilder sind Rohmaterial für ihn, die aber auch ganz tief in das Denken und die Dramaturgie des Fotokünstlers dringen lassen.

Interessant in diesem Zusammenhang die Genese der frontalen, überlebensgroßen Akte der Serie „Big Nudes“, die Newton mit einer Serie von Polaroid-Studien vorbereitete. Wir sehen Henrietta und Liss und andere in verschiedenen Posen. Die Entstehungsgeschichte der Serie ist spannend. Er habe Fotos des Arbeitsraums einer Spezialeinheit der deutschen Polizei gesehen, schreibt Newton im Vorwort zu „Pola Woman“. Es sei das Büro der Terroristenfahnder gewesen, die der Baader-Meinhof-Gruppe auf der Spur waren. Die Wände waren tapeziert mit lebensgroßen Bildern der Gesuchten.

Newton schnitt die Fotos aus der Zeitung aus und legte sie neben sein Bett. „Und eines Tages wusste ich: Das ist’s! Ich mache eine Aktserie, Frauen in voller Größe, die auch nicht im entferntesten nach Modellen aussehen, lebensgroß in meinem Studio, nur vor weißem, makellosem Papier als Hintergrund.“ Er sprach von seinen Nackten als „den Terroristen“.

Erotische Begegnungen

Andere Bilder in „Pola Woman“ erzählen andere Geschichten. Surreale Szenen, schwül-erotische Begegnungen, die aber in ihrer Inszeniertheit sehr distanziert wirken, latente Gewalt und Übergriffigkeit, rätselhafte, surreale Episoden.

Die natürlich den Blick freigeben auf das große Thema „Newton und die Frauen“. Der Bonner Fotoexperte Klaus Honnef hat sich intensiv mit dem Werk des 2004 gestorbenen Berliner Fotografen beschäftigt und dabei auch immer dessen erotische Obsessionen im Auge behalten. Zum 80. Geburtstag schieb er in der „Welt“: „Helmut Newton ist ein Fotograf der ungehemmten Augenlust. Keiner unter den Großen seines Fachs hat zuvor seinen voyeuristischen Neigungen so unverhohlen nachgegeben, aber auch keiner den wachsenden Exhibitionismus im Zeitalter der Massenmedien so verschwenderisch gefeiert wie er.“

In einem Katalogbeitrag schrieb er 2008: „Modefotografie hat ihn nicht interessiert – ihn fesselte die Mode als Schwester der Erotik und die Erotik, weil sie mit ihrem verwirrenden Spiel – wie bestimmte Stoffe chemische Reaktionen – die emotionalen Stimmungen einer Gesellschaft sichtbar macht.“

Feministinnen liefen Sturm

 Der Fotograf „der kalten Erotik und der sexuellen Lust“ habe, so Honnef, den Zorn militanter Feministinnen auf sich gezogen und den „Applaus vieler selbstbewusster Frauen“ geerntet. Newton „hat die Fantasie mindestens einer Generation von Menschen mit seinen Bildern erregt, angeheizt, manipuliert und irritiert, über alle trennenden ideologischen und kulturellen Grenzen hinweg.“

Honnef hat sich immer wieder mit Newton befasst, am intensivsten wohl, als er den Meister 1987 ins Rheinischen Landesmuseum Bonn holte, wo Honnef Ausstellungsleiter war. Es ging um Porträts, Akte und Mode. Andreas Kilb schrieb damals in der „Zeit“: „Newton, der heißkalte Photograph, gibt vor, Porträtaufnahmen zu machen. In Wahrheit bebildert er seine eigenen Phantasien von Sexus und Macht, spielt sie in den immergleichen Varianten durch, mit dem Ehepaar, den Geschwistern, der Sexbombe, mit seinen Modellen und mit sich selbst.“ Und er sparte nicht mit Kritik: „Newtons Inszenierungen erhitzen die Lust des Voyeurs für einen Augenblick, aber sie verpuffen, sobald man genauer hinschaut. Ihre Machart ist ihr Verhängnis. Je kürzer man sie anschaut, desto schöner sind sie.“ Das sei wie beim Blick durchs Schlüsselloch, bei dem man die schönsten Sachen auch gleich am Anfang sehe. „Das Nachspiel ist Tristesse.“

Das Spiel über Bande

Ein Urteil, das Honnef bestimmt anders sieht: Er nimmt die Blickführung der Modelle wahr, „die wie beim Billard meist über die Bande gehen“, die Verwendung von Spiegeln, Glasscheiben, reflektierenden Wasserflächen und irritierende Verdoppelungen. An Newtons Größe und Kunst der Komposition zweifelt der Experte kein bisschen. „Pola Woman“ unterstreicht seine Klasse.

Helmut Newton: Pola Woman. Schirmer/Mosel, 152 S., 29.80 Euro.

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