Und schon krachen die Nähte im Bonner Ballsaal

Britta Lieberknechts Chroeografie "Berühren - Zerreißen" bringt im Ballsaal die sexuelle Gier auf ihren realen Nenner. Ein anregender Abend, der das Publikum zum Staunen gebracht hat.

Und schon krachen die Nähte im Bonner Ballsaal
Foto: Christian Knieps

Bonn. Das Lob auf die Textilindustrie kann gar nicht laut genug gesungen werden. Ein T-Shirt lässt sich zur fruchtblasenähnlichen Körperhülle dehnen, Jeans zeigen, warum ihr Ursprung in der Arbeitskleidung liegt.

Britta Lieberknechts Choreografie "Berühren - Zerreißen", die im Theater im Ballsaal zu sehen war, singt das Hohelied aufs haltbare Textil, an dem sich seine Träger mühsam verausgaben - in ironischer Absicht, versteht sich.

Der Tänzer Olaf Reinecke stimmt das Publikum mit verfremdeten Kopulationsgesten aufs Thema ein, bevor er und seine Kollegin I-Fen Lin zwei Stühle an sich heranziehen, über die Unterwäsche gespannt ist. Und ab geht es in den Paarclinch.

Die Scheinwerfer glühen auf, die Öffentlichkeit ist dabei, und schon krachen die Nähte. Stoffstreifen lösen sich von Lins T-Shirt, ein beherzter Zugriff und Reineckes Hemd hat einen Ärmel weniger.

Dass da Gewalt und Grenzüberschreitung im Spiel ist, deutet sich an. Von Erotik dagegen keine Spur und darin liegt der Witz von Lieberknechts Choreografie. Lustvoll die Kleider vom Leib reißen ist "9 ½-Wochen"-Kitsch, jedoch mit Vorbildcharakter.

Im Realen muss allerdings Beziehungsarbeit geleistet werden, gerade dann, wenn erotische Gier auf extrem haltbare Stoffe trifft. Unter größtem Kraftaufwand gehen sich Reinecke und Lin an die Hosen, reißen unter vollem Körpereinsatz, bis alles in Fetzen hängt.

Dass der Abend auf Musik verzichtet und nur das Keuchen der Tänzer hörbar werden lässt, ist da nur folgerichtig.

Allerdings läuft die Choreografie in eine Authentizitätsfalle. Die ernsthaft verrichteten Reißvorgänge besitzen, weil sie als reale vorgeführt werden, kaum künstlerischen Mehrwert. Sie sind, was sie sind.

Fatal wird es, wenn als Kontrast dazu Reinecke und Lin sich zärtlich über Arme und Nacken, sprich: die unbedeckte Haut streichen.

Nicht nur dämmert in der Berührung als Erotik-Alternative der Feminismuskitsch der frühen Jahre; er reflektiert auch nicht, dass die mediale Inszenierung fürs erotische Kleiderzerfetzen wie fürs Streicheln gilt.

Der Schluss ist dann beeindruckend. Da schlüpft Lin unter Reineckes Feinripp-Unterhemd: Aus dem Tier mit den zwei Rücken werden zwei "Rücken an Rücken vereinte" (Botho Strauß), vulgo: ein Duo hochindividualisierter Subjekte, die in verschiedene Richtungen streben.

Lin verschmilzt schließlich via Slip und Tanktop zentaurisch mit einem Stuhl, den sie wie einen Cul de chaise hin- und herschwenkt. Britta Lieberknecht gelingt trotz Schwächen ein anregender Abend, der die Zweisamkeit allerdings auch nicht einfacher macht.

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