Ian McEwans Roman "Kindeswohl" Trauer und Entzücken

Fiona Maye, eine Frau von bald 60 Jahren, ist Familienrichterin am High Court in London. Kollegen schätzen sie, der Lordoberrichter persönlich beliebte einmal beiläufig über sie zu bemerken: "Göttliche Distanz, teuflische Klugheit, und dabei immer schön."

 Er lädt zum Wortmusikgenuss ein: Ian McEwan, aufgenommen im Oktober 2013 in Barcelona.

Er lädt zum Wortmusikgenuss ein: Ian McEwan, aufgenommen im Oktober 2013 in Barcelona.

Foto: dpa

Der englische Autor Ian McEwan hat Fiona Maye erschaffen, sie ist die Hauptfigur des soeben erschienenen Romans "Kindeswohl". Die Richterin, die auch am Klavier eine gute Figur macht, lebt mit ihrem Mann, einem Geschichtsprofessor, standesgemäß am Gray's Inn Square. Die Dinge könnten oberflächlich betrachtet nicht besser laufen. Doch Fiona Maye ist eine Frau in der Krise.

Der Mann eröffnet ihr, er möchte mit einer jungen Frau fremdgehen: "Ich brauche das. Ich bin neunundfünfzig. Das ist meine letzte Chance. Für ein Leben nach dem Tod fehlt bislang jeder Beweis." Größere Turbulenzen verursacht ein Fall, den die Richterin verhandeln muss. Es handelt sich um den 17-jährigen Adam Henry, der an Leukämie erkrankt ist. Er verweigert aus religiösen Gründen eine überlebensnotwendige Bluttransfusion; Henry gehört wie seine Eltern zu den Zeugen Jehovas. Fiona Maye muss entscheiden, das Gericht könnte eine Transfusion anordnen und sich über den Willen des noch nicht volljährigen Adam hinwegsetzen. Die Richterin begibt sich ins Krankenhaus, um sich persönlich ein Bild von dem Patienten zu machen.

Was folgt, sind Handlungselemente, die sich in trivialen Genres großer Beliebtheit erfreuen. Adam Henry, Geigenspiel und Poesie zugetan, zeigt sich fasziniert von der älteren Frau. Die sendet in ihrer momentanen Verletzlichkeit Signale aus, die ein junger Mann missverstehen kann. Ein scheinbar unschuldiger Kuss hat eine schicksalhafte Wirkung. Fionas Entscheidung für die Bluttransfusion und Adam Henrys neu entfachte Lust am Leben führt Ian Mc Ewan mitnichten zu einem wohlfeilen Happy End. Der Autor, dessen Sprachkunst sogar so etwas Flüchtiges wie Musik zu fassen bekommt, vereint mehrere Elemente auf vollkommene Weise: die Details eines juristisch, ethisch und moralischen packenden Falles; den Konflikt zwischen Glaube und Vernunft, Religion und Wissenschaft; schließlich die emotionale und erotische Verstrickung eines Paares, das 40 Jahre trennt.

McEwan erzählt mit viel Empathie und thematisch fundiert. Er versteht es, sich in komplexe Sujets einzuarbeiten und sie in zugängliche Prosa zu verwandeln. Des verschwurbelten Gedankens Blässe ist ihm ebenso fremd wie stilistisches Blendwerk. Er malt unaufgeregt, aber spannungsvoll, gleichsam in altmeisterlichem Stil ein Bild voller subtiler Nuancen, Zwischentöne und Details. Das Buch lädt zum Wortmusikgenuss ein.

Musik und Poesie spielen in dem Roman Hauptrollen. Im Buch aufgerufene Werke wie William Butler Yeats' Gedicht "Beim Weidengarten unten" ("Down By The Salley Gardens") und dessen Vertonung durch Benjamin Britten spiegeln Handlung und Empfindungen der Hauptfiguren. "Sie kannte sie gut, diese traurige, entzückende Melodie, eine alte irische Weise", heißt es über Fionas Beziehung zu Brittens "Weidengarten". Trauer und Entzücken erfüllen auch den Leser angesichts des Stoffes, den McEwan ausbreitet.

Der Autor von unverzichtbaren Werken wie "Abbitte", "Saturday", "Am Strand" und "Solar" wirbt mit seinem neuen Buch für sein eigenes Schaffen, darüber hinaus aber auch für die Lektüre von W. B. Yeats. Die erste Strophe seines Gedichts "Beim Weidengarten unten" lautet: "Beim Weidengarten unten, da traf ich meine Süße; / Sie kam zum Weidengarten, schneeweiß warn ihre Füße. / Nimm leicht die Liebe, bat sie, leicht wie die Bäume blühen; / Doch ich, so jung und töricht, hab das nicht eingesehen." Die Liebe, belegt Ian McEwans Roman, ist eine Himmelsmacht mit (potenziellen) zerstörerischen Nebenwirkungen.

Ian McEwan: Kindeswohl. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes, 224 S., 21,90 Euro.

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