Bonn im Roman Tiefer als Freundschaft

Wenigstens das Wetter erfüllt die Erwartungen", stellt die Erzählerin auf den ersten Seiten aus Juli Zehs Roman "Spieltrieb" fest, und man weiß sofort, dass nur von Bonn die Rede sein kann, von der Stadt, die Wolfgang Koeppen einst als "Treibhaus" beschrieb und deren Schwüle auch noch ein halbes Jahrhundert nach dessen Veröffentlichung ihren sprachlichen Niederschlag findet:

 In Gregor Schnitzlers gleichnamiger Verfilmung von Juli Zehs Roman "Spieltrieb", der 2013 in die Kinos kam, spielt Michelle Barthel die Schülern Ada und Maximilian Brückner den Lehrer Smutek.

In Gregor Schnitzlers gleichnamiger Verfilmung von Juli Zehs Roman "Spieltrieb", der 2013 in die Kinos kam, spielt Michelle Barthel die Schülern Ada und Maximilian Brückner den Lehrer Smutek.

Foto: Concorde

"Väterchen Rhein schwitzt seine flusshaften Sekrete aus, die Köln-Bonner-Bucht sammelt sie und kocht sie ein zu schwerem Mus, das auf Häusern, Autodächern, Rücken und Gedanken lastet."

Die Parallele dürfte in Juli Zehs von literarischen Anspielungen überquellendem, mehr als 550 Seiten starkem Roman zwar nicht ganz zufällig sein. Doch erzählt wird hier eine ganz andere Geschichte, in der das politische Bonn nur eine winzige Nebenrolle einnimmt, Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften" dafür eine weit größere.

Schauplatz ist das fiktive Ernst-Bloch-Gymnasium, worin freilich leicht das Otto-Kühne-Gymnasium wiederzuerkennen ist, das die 1974 in Bonn geborene Juli Zeh selbst als Schülerin besucht hat. Doch autobiografisch ist das 2004 erschienene Werk nicht. Dazu sind die beiden jungen Protagonisten doch etwas zu seltsame Zeitgenossen.

Man könnte die hochbegabte, als "nicht sehr schön" beschriebene Ada und den charismatischen Alev, die beide Außenseiter auf der Schule sind, mit einigem Recht als Geschwister im Geiste von Alfred Hitchcocks Brandon Shaw und Phillip Morgan beschreiben. In dem Film "Cocktail für eine Leiche" erdrosseln sie einen ehemaligen Klassenkameraden. Den Mord und seine Vertuschung betrachten sie zynisch eher als intellektuelle Herausforderung denn als kriminelle Tat. Das Bonner Schülerduo treibt dieselbe Lust am Experiment um. Nachdem Alev die drei Jahre jüngere Ada mit Lektüre zur Spieltheorie etwa von John Nash versorgt hat, gehen sie dazu über, die Lesefrüchte an der Realität zu überprüfen.

Ihr Opfer ist der polnische Deutsch- und Sportlehrer Smutek, der seiner ebenfalls aus Polen kommenden Frau zuliebe möglichst weit in den Westen nach Bonn gezogen war. Ihn verführt Ada auf der Gymnastikmatte, während Alev, der von sich behauptet, impotent zu sein, die Szene mit der Kamera festhält. Mit den pikanten Bildern erpresst das Duo den Lehrer. Die Schüler wollen Geld, aber vor allem auch, dass Smutek sich jede Woche erneut einzufinden hat, um mit der 15-jährigen Ada Sex zu haben.

Ada und Alev berauschen sich an ihrer Seelenlosigkeit, mit der sie den Lehrer in sein Unglück zwingen. Sie empfinden eine gewisse Genugtuung dabei, wenn ihr Handeln von keiner Moral in die Schranken verwiesen wird. "In uns hat Smutek sein wahres Selbst gefunden", sagt der Zyniker Alev zu Ada. "Unser Verhältnis ist reiner als Liebe, tiefer als Freundschaft und inniger als die Beziehung des Bergsteigers zum Seil. Wir sollten heiraten, alle drei."

Allerdings ist diese Zeit der subjektiven Freiheit nur von kurzer Dauer, denn es bleibt nicht aus, dass zwischen den Mit-"Spielern" doch Gefühle entstehen. "Ich weiß inzwischen so viel über ihn", sagt Ada irgendwann und kann sogar ein Gedicht in Smuteks Muttersprache zitieren. Für Alev verliert die Menage à trois deshalb bald an Reiz. "Das Spiel ist aus", verkündet er.

Was für das Erpressungsopfer Smutek eigentlich Erlösung sein müsste, bringt ihn zur Raserei, die sich in gewaltigen Faustschlägen äußert, die Alev mit viel Blut, gebrochener Nase, gebrochenem Kiefer, verlorenen Zähnen und etlichen weiteren Verletzungen bezahlt. Adas Zeugenaussage vor Gericht verdankt es Smutek, dass er freikommt. Er habe es aus Liebe getan, sagt er.

In der Richterin, die man "Die kalte Sophie" nennt, ist noch am ehesten Juli Zeh selbst zu erkennen - zumal sie sich am Ende als die Erzählerin erweist. Auch Juli Zeh ist Juristin. Und sie zählt zu den politisch aktivsten Köpfen unter den Gegenwartsautoren. Zuletzt hat sie sich in bester Heinrich-Böll-Tradition in die Diskussion um die NSA-Affäre eingeschaltet.

Auch wenn ihr Bonn-Roman "Spieltrieb" vielleicht nicht so vordergründig politisch ist wie Koeppens "Treibhaus" oder Bölls "Ansichten eines Clowns", setzt die Autorin Juli Zeh doch jene Tradition von politisch denkenden Schriftstellern fort, von denen viele glauben, sie sei mit Günter Grass' Tod von der Bildfläche verschwunden. Vielleicht ist das Treibhaus Bonn dafür ja ein guter Nährboden.

Juli Zeh: Spieltrieb. Roman, 576 S., Schöffling & Co, gebunden, 24,90 Euro; als btb-Taschenbuch 10,99 Euro

Weitere Folgen der GA-Serie

  • Lars Brandt: Gold und Silber
  • Joseph von Westphalen: Im diplomatischen Dienst/ Das schöne Leben/ Die bösen Frauen
  • Akif Pirinçci: Felidae
  • Jochen Schimmang: Das Beste, was wir hatten
Meistgelesen
Neueste Artikel
Die Stunde der Sieger
Abschluss Deutscher Musikwettbewerb in Bonn Die Stunde der Sieger
Zum Thema
Aus dem Ressort