Bundeskanzleramt Bonn Symbol der neuen Politik

Bonn · Die Wissenschaftlerin Merle Ziegler stellt ihre Analyse des Bonner Bundeskanzleramtes im Haus der Geschichte vor. Helmut Schmidt kritisierte den Bau, Horst Ehmke hatte ihn als Werkzeug für modernes Regieren konzipiert

 Horst Ehmke (rechts) und Helmut Schmidt, 1972.

Horst Ehmke (rechts) und Helmut Schmidt, 1972.

Foto: picture alliance / dpa

Typischer Fall von Dumm gelaufen: Das Bonner Bundeskanzleramt hatte nach dem schroffen Urteil des ersten Hausherrn Helmut Schmidt, der dem Gebäude den Charme einer zu groß geratenen „rheinischen Sparkasse“ attestierte und kaum eine Gelegenheit ausließ, sich über die emotionale Kälte des Ortes zu mokieren, keine Chance, unvoreingenommen beurteilt zu werden. Der gerne als „Aktenfresser“ bezeichnete Hanseat hätte sich eigentlich mit diesem nüchternen Ambiente anfreunden können, tat dies aber erst, als er das 1976 eröffnete Kanzleramt mit seinem Kultur-Stempel versehen hatte. Schmidt brachte Expressionisten-Gemälde ins Haus, ließ Henry Moores „Large Two Forms“ vor dem Amt aufstellen, lud sein Arbeitszimmer mit persönlichen Dingen auf – inklusive Mentholzigaretten auf dem Schreibtisch ist es heute wieder akkurat rekonstruiert zu besichtigen.

Zeit für eine Revision? Liest man Merle Zieglers im Droste-Verlag erschienene, glänzend geschriebene Dissertation „Kybernetisch Regieren – Architektur des Bonner Bundeskanzleramtes 1969-1976“, muss man diese Frage unbedingt bejahen. Und nach der Lektüre sieht man den Bau der Bonner Planungsgruppe Stieldorf mit anderen Augen. Am Donnerstagabend stellte Ziegler ihr in der Reihe „Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“ erschienenes Buch und die Kernthesen dazu im Bonner Haus der Geschichte vor.

Ziegler referiert die vernichtenden Urteile von Architekturexperten, die den dreigeschossigen, bräunlichen Bau als „Debakel“ und „Tiefpunkt der baulichen Entwicklung der Bundeshauptstadt“ geißelten – Staatlichkeit finde zwar „Unterkunft“, aber kein „Image“, monierte etwa Heinrich Klotz.

Ziegler setzt bei ihrer Analyse jedoch an anderer Stelle an, und da wird's spannend. Warum wurde der Bau so errichtet? Das ist ihre Frage. Welches Denken liegt ihm zugrunde? Hier kommt der Begriff Kybernetik ins Spiel, die Kunst des Steuerns, und die kühne Vision einer Politik als zwar hochkomplexer, jedoch regelbarer Prozess.

Politikwechsel mit Folgen

1969 war erstmals in der deutschen Geschichte eine sozialliberale Koalition an die Regierung gekommen. Was darauf folgte, war der oft beschworene, hier aber teilweise geglückte Politikwechsel. Mancher sprach sogar nicht ohne Hybris von einer Neugründung der Bundesrepublik. Die Euphorie des Aufbruchs, ein neuer Politikstil, eine neue Geschwindigkeit und ein energischer Manager Horst Ehmke als Kanzleramtschef im Zentrum der Macht: Das waren Zutaten zum Politikwechsel.

Eine weitere war die Offenheit gegenüber modernen Managementtechniken und die Nähe zu den Unternehmensberatern vom Quickborner Team um Eberhard Schnelle. Gruppenarbeit, Brainstorming, permanente Organisationsanalyse, selbstorganisierende Systeme, Großraumbüros – und das Gebäude als Werkzeug für eine vorausschauende Regierungsarbeit. So stellten sich Ehmke und Co. die Zukunft vor.

Und das neue Kanzleramt sollte – als Alternative zum Vorgängerdomizil im klassizistischen Palais Schaumburg – zum „Vehikel der neuen politischen Planung“ (Ziegler) werden. Für die Historikerin Marie-Luise Recker passt dieser Bau in die Zeit: „Hier formuliert die Bundesrepublik ihren neuen Anspruch“, sagte sie in der von Harald Biermann moderierten Diskussion, an der auch Peter Türler, Gründungsmitglied der Planungsgruppe Stieldorf, teilnahm. Türler sieht übrigens bei den neuen „hermetisch geschlossenen“ Bauten im Berliner Regierungsviertel keinen Fortschritt zum Bonner Kanzleramt.

In großen Teilen blieb dieses Projekt Utopie. Denn, wie Ziegler sehr schön schreibt, es verschwanden bald viele Elemente der frühen Planungen von Ehmke und dem Quickborner Team: Die Organisationsform des Amtes widersprach etwa der angestrebten „integrierten Abteilungsstruktur“. Aus „Bürolandschaften in Großräumen“ wurden kleine Bürozellen. Ende 1972 musste Ehmke das Kanzleramt verlassen, „und die dem Neubauprojekt zugrunde liegende Regierungstechnik der politischen Planung war damit ebenso Makulatur wie die dazu entwickelte Raumkonzeption“, analysiert Ziegler. Ehmkes Erben machten aus dem Bau, was wir heute sehen. Und mitunter kritisieren.

Merle Ziegler: Kybernetisches Regieren. Architektur des Bonner Bundeskanzleramtes 1969-1976. Droste, 396 S., 59 Euro

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