Roman "Fliehkräfte" Stephan Thoma schreibt über einen Bonner Philosophieprofessor auf Abwegen

BONN · Ende Fünfzig ist ein schwieriges Alter. Zumindest für den Bonner Philosophieprofessor Hartmut Hainbach. Das Karriereziel hat er eigentlich erreicht, ist mit der schönen, klugen und kreativen Portugiesin Maria verheiratet, hat die Tochter Philippa erfolgreich durch Kindheit, Pubertät und Schulzeit gebracht - sie studiert inzwischen im nordwestspanischen Santiago de Compostela.

 Stephan Thome bei einer Lesung in Berlin.

Stephan Thome bei einer Lesung in Berlin.

Foto: dpa

Und doch wirken jetzt die "Fliehkräfte", die geeignet sind, Ehe und Karriere vom Kurs abweichen zu lassen, das gesamte Leben aus der Bahn zu werfen. "Fliehkräfte" heißt der anregende und teilweise sehr witzige Roman von Stephan Thome (40) aus dem hessischen Biedenkopf.

Äußerer Anlass ist das Angebot von Hainbachs Freund Peter, in seinen Fachverlag in Berlin einzusteigen und den Bonner Uni-Job an den Nagel zu hängen. Hainbach bittet sich Bedenkzeit aus, begibt sich an die Inventur seines Lebens. Eine Reise in die Vergangenheit beginnt, und die Gegenwart wird geprüft. Es kriselt.

Die Wochenend-Ehe mit Maria - sie arbeitet in Berlin am Theater - gestaltet sich schwierig, ein falsches Wort und der Orkan geht los. Eindrucksvoll beschreibt Thome, der mit "Fliehkräfte" zu den Favoriten auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis zählte, die Eskalation, den Verlauf, die Agonie und Hilflosigkeit nach dem Streit, der oft telefonisch nachbereitet werden muss. Schwierig gestaltet sich auch die Kommunikation mit der Tochter.

Allzu oft ist Hainbach allein im großen Haus auf dem Bonner Venusberg, gibt sich dem Rotwein hin, baggert seine Sekretärin an, leidet im Übrigen auf hohem Niveau an seinem Professorendasein an der Bonner Alma Mater. Seine Wunsch-Uni ist es nicht, aber er hat es sich leidlich im Philosophischen Seminar eingerichtet.

Die Verachtung und Hybris mancher Kollegen nervt ihn nicht minder als der Bologna-Prozess und die Tatsache, dass er sich mit Doktoranden wie Charles Lin herumschlagen muss. Der will, ohne einen deutschen Satz geradeaus schreiben zu können, unter dem Motto "Stetige Bemühung zur Veräußerung des Geistes" über die Hegel-Exegese einiger obskurer chinesischer Denker promovieren und ruft wöchentlich beim Doktorvater an, um nachzuforschen, ob der mit der Lektüre durch sei.

Thomes brillante Schilderung des Universitätsalltags trägt satirische Züge, liest sich höchst amüsant und erinnert an die herzerfrischende angelsächsische Tradition des Campus-Romans à la David Lodge. Die Uni erscheint als mörderisches Biotop der Eitelkeiten und des gelehrten Leerlaufs. Gewiss ein Klischee, nicht das einzige in Thomes Roman, der sich bisweilen langatmig, aber mittels einer sehr feinen, kultivierten und anschaulichen Sprache mit dem gefrusteten Professor auf Sinnsuche begibt.

Hainbach geht fast den Weg der Jakobspilger, zumindest ist das galizische Santiago sein erstes großes Ziel, Lissabon das fernste. In Santiago will er seine Tochter treffen. Doch zuvor steht etwa seine Jugendliebe, die ätherische Sandrine in Paris auf dem Besuchsprogramm.

Die Spannung beschreibt Thome so: "Erst als Hartmut ihre Hand an seine Lippen führt, fällt ihm auf, dass es sich um eine Geste aus seinem Repertoire ehelicher Zärtlichkeiten handelt. Falls Sandrine das spürt, lässt sie sich nichts anmerken. Draußen ist aus dem kühlen Nachmittag ein milder Abend geworden, der seine Sonnenstrahlen durch die offene Balkontür schickt. Die Wolken, die er am Morgen über dem Opernhaus beobachtet hat, haben den Himmel über Paris geräumt. Langsam zieht vom Westen her ein blasses Abendrot herauf. Es tut gut zu wissen, dass er jetzt nichts sagen muss."

Raffiniert erzählt Thome auf verschiedenen Ebenen und in verschachtelten Rückblenden Hainbachs Geschichte. Viele Facetten sorgen für Spannung, und wie der Autor oft in Nebensätzen biografische, topografische und sonstige Details einstreut, zwingt zur absoluten Konzentration. Zumal die Schilderung innerer und äußerer Vorgänge fließend ineinander übergeht.

Thome konfrontiert den Leser mit vielen Menschen, die Hainbachs Leben prägten, etliche Amouren, Widersacher, Kollegen. Es sind herrliche, vielschichtige Porträts etwa von dem ehemaligen Kollegen, der im südwestfranzösischen Städtchen Mimizan etwa auf halber Strecke zwischen Arcachon und Bayonne eine Bar aufgemacht hat, oder von den wechselnden Beziehung in seiner wilden Berliner Zeit. Hainbach selbst, von den Daten her eigentlich ein 68-er, entpuppt sich als apolitischer Opportunist.

Jede Begegnung mit sich selbst, der Vergangenheit oder mit Menschen, die in der Vergangenheit eine Rolle für Hainbach spielten, wirft den Professor auf seiner Sinnsuche aus der Bahn: Die Zeit kann nicht zurück gedreht werden, die alten Muster passen nicht mehr. Die Diagnose stellt Thome schließlich lapidar und ohne Larmoyanz: Hainbach ist Opfer der Fliehkräfte geworden, ist gescheitert. Das muss er auf seiner Tour schmerzlich erkennen, gescheitert auf hohem Niveau.

Stephan Thome: Fliehkräfte. Suhrkamp, 474 S., 22,95 Euro.

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