Pop in der Philharmonie So war das Konzert von Tocotronic in Köln

Köln · Hochwirksames Konzentrat: Die deutsche Band erobert für die c/o pop den klassischen Musentempel im Sturm.

 Vorsicht, Suchtgefahr: Frontmann Dirk von Lowtzow und seine Bandkollegen von Tocotronic in Köln.

Vorsicht, Suchtgefahr: Frontmann Dirk von Lowtzow und seine Bandkollegen von Tocotronic in Köln.

Foto: Thomas Brill

Am Anfang steht ein „sehr, sehr altes Lied“, am Ende dann „ein Lied aus der Zukunft“. Zwischen „Die Idee ist gut, doch die Welt ist noch nicht bereit“ und „Die Unendlichkeit“ sind mehr als zwei Dekaden vergangen. Samstagnacht in der Kölner Philharmonie verdichten Tocotronic das Beste aus diesem Zeitraum zu einem hochwirksamen Konzentrat. So hochwirksam, dass man die knapp zwei Stunden, in denen das Dirk von Lowtzow, Jan Müller, Arne Zank und Rick McPhail gelingt, eigentlich verdünnen müsste.

In der Rückschau tut man das tatsächlich. Und genießt dieses außergewöhnliche Konzert noch einmal. Noch einmal. Und noch einmal. Tröpfchenweise. All die irisierenden Ingredienzien genussvoll nachschmeckend. Die Warnung „Vorsicht, Suchtgefahr!“ am Eingang wäre nicht falsch gewesen. Stattdessen wird dort darauf hingewiesen, dass es erst um 22 Uhr los geht. Für das Konzerthaus eine eher unübliche Zeit. Aber den Rahmen bildet die c/o pop. Der Auftritt des Hamburger Quartetts ist einer der Höhepunkte des Festivals und schon lange vorher ausverkauft.

Mastermind der deutschen Pop-Intelligenzija

Bis wenige Minuten vor Mitternacht, 18 Stücke und vier Zugaben lang, währt das Wechselspiel der Widersprüche und Wonnen. Wenn Sänger Dirk von Lowtzow (48) solche Sätze sagt wie „Wir freuen uns unbändig, heute in der Philharmonie gastieren zu dürfen“, „Ihr seht gut aus!“ oder „Ihr seid ganz reizend!“, dann in einer Tonlage und einem Sprachduktus, den man eher Bela Lugosi als Graf Dracula als dem Mastermind der deutschen Pop-Intelligenzija zuordnen würde. Die gehörige Portion Ennui, die darin mitschwingt, will so gar nicht zu dem passen, was folgt.

Kraft- und spielfreudig machen sich die vier, die in ihren Jeans und T-Shirts so ganz und gar unspektakulär daherkommen, ans Werk. Schon bei „Let There Be Rock!“ hält es die ersten Fans nicht mehr auf den Sitzen. Die Aufforderung, dass das jetzt alle tun sollen, braucht es nach „Hi Freaks“ eigentlich gar nicht mehr. Schon jetzt haben die Ordner Mühe, die Bühne abzuschotten, die Mittelgänge sind geflutet von Tanzenden, rotierende Schweinwerfer schießen Blitze in den Saal, das mit dem Handyfilmverbot lässt sich kaum noch durchsetzen.

Zu „Wie wir leben wollen“ kommt die Discokugel unter der Decke zum Einsatz, die Stofftiere auf der Bühne, der Hund, der Fuchs und ihre Kumpel, scheinen zu lächeln. „Ja. Wir haben nicht geprobt. Und der Nebel des Grauens breitet sich aus“, wieder mit Bela Lugosi-Stimme. Folgsam wabern dicke weiße Schwaden über die Bühne und bilden die Kulisse für „Aber hier leben, nein danke“. Echo aus Tausenden Kehlen, überall auf den Rängen wogt es.

Der Anfang von „Ich bin viel zu lange mit euch mitgegangen“ ertrinkt im Jubel, Jubel, Jubel. „This Boy is Tocotronic“, auch ein altes Lied und unverzichtbar im süchtig machenden, wonnevollen Konzertkonzentrat, wird gerahmt von „Hey du“ und „Unwiederbringlich“. Zwei neue Stücke vom letzten Album „Die Unendlichkeit“, in denen von Lowtzow autobiografisch von einer Zeit erzählt, als es noch keine Handys gab und „die Zukunft ausschließlich in Science-Fiction-Filmen“ stattfand. Ein Konzeptalbum, das gleichsam den Bogen im Bogenschlag des Konzerts vorgibt. Von dem was war, über das, was ist, bis hin zu dem, was sein wird.

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