Lustvolle Provokation Premiere von "Abraumhalde“ im Theater Bonn

Bonn · Elfriede Jelineks bitterböses Stück „Abraumhalde“ feiert in einer Inszenierung von Simone Blattner eine umjubelte Premiere im Theater Bonn.

 Buntes Panoptikum: Szene aus Simone Blattners Bonner Jelinek-Inszenierung.

Buntes Panoptikum: Szene aus Simone Blattners Bonner Jelinek-Inszenierung.

Foto: Beu

Elfriede Jelinek räumt ab. Gräbt sich durch Materialschichten, kippt den Abraum beiseite und legt ihn auf Halde. Mit einem Bergmanns-Begriff aus dem Tiefbau hat die wortgewaltige Literatur-Nobelpreisträgerin ihr 2009 in Hamburg uraufgeführtes Werk „Abraumhalde“ benannt. Es ist ein „Sekundärdrama“, wie sie es mittlerweile auch zu Goethes „Urfaust“ verfasst hat. Es sind Stücke, die „kläffend neben den Klassikern herlaufen sollen“, hier neben Lessings „Nathan der Weise“, dem Paradestück der deutschen Aufklärung. Jelineks Konzept ist eine konstruktive Störung, ein ästhetisches Verfahren zur Problematisierung scheinbar evidenter Wirklichkeitsmodelle. Gleichzeitig auch ein selbstreflexiver Eingriff in die patriarchalen Macht- und Hierarchiediskurse von Kunst und Gesellschaft.

In den Kammerspielen hat die Schweizer Regisseurin Simone Blattner mutig die Besteigung von Jelineks intertextuellem Satzgebirge gewagt, das mit Fragmentierungen, bizarren Umwegen und assoziativen Verknüpfungen den Brand des Primärdramas neu entfacht, der am Ende von Nathans märchenhafter Versöhnungsutopie gelöscht zu sein schien. „Ich bin auf Geld gefasst; und er will Wahrheit (…), als ob die Wahrheit Münze wäre“ – Jelinek nimmt Nathans Überlegung zum Anlass für ihre Abrechnung mit der vierten Religion: Geld, zum Wert erklärt und geheiligt durch bloße Schriftzeichen.

Die Welt ist mutiert zu einer universalen Börse, in der alles zum Tausch angeboten wird: Religion gegen Kapital, Aktien und Kredite gegen Glauben, Immobilien gegen Körper, Leben gegen Gräber, ein Paradies mit 72 Jungfrauen gegen ein Attentat mit möglichst vielen Toten. Und immer wieder mischt sich Josef Fritzl ein, der im niederösterreichischen Amstetten seine Tochter jahrelang in einem Keller gefangen hielt und mit ihr heimlich sieben Kinder zeugte. Die unterirdische Bunker-Familie eines sexsüchtigen, chauvinistischen, kleinbürgerlichen Tyrannen. Verkauft als Mediensensation mit kurzer Halbwertszeit.

Bernd Braun im Reifrock

Auf der Bühne sieht man glücklicherweise davon nichts, sondern eine irrwitzige visuelle Dekonstruktion, die Jelineks Sprechmusik virtuos zum Klingen bringt. Anspielungen auf das Primärdrama, inszeniert von Volker Lösch, sind unübersehbar und gewollt, von der einsamen Palme bis zum reclamheftgelben Hintergrund. Eine drehbare Dachstuhl-Konstruktion aus rußigen Balken (Bühnenbild: Martin Miotk) liefert den Schauplatz für die sechs Figuren. Bernd Braun mit barockem Reifrock und starrer Lockenperücke wie aus Velasquez‘ „Las Meninas“ (fabelhafte Kostüme: Andy Besuch) zelebriert die Werte der Vergangenheit grandios. Daniel Breitfelder mit Leopardenfellshorts, Muskel-Attrappe und Wagnerschwert sieht aus wie eine Mischung aus Siegfried und Trump. Sören Wunderlich gibt den Plastik-Cowboy, Holger Kraft den zipfelmützigen Gartenzwerg und Pilipp Basener das Schweinchen mit glitzergrünem Overall. Im Hintergrund hüpft gelegentlich ein ergrauter Häuslebauer-Boygroup-Chor herum.

Wirklich lebendig in diesem grotesken Männer-Panoptikum ist die Frau. Laura Sundermann in wechselnden roten Outfits gibt die fromme Dienerin, die feurige Widerrednerin und Businessdame, die am Ende dankend kapituliert vor dem brutalen männlichen Witzfiguren-System und im dottergelben Hosenanzug barfuß dem Bargeld huldigt. Das freilich noch zu entheiligen und zu entkeimen ist, bevor es unheimlich alle Werte zerstört. Zugegeben: Viel Neues erzählt die Aufführung mit ihren allfälligen Blasphemien und lustvollen Provokationen kaum. Aber mit kostbarer spielerischer Sinnlichkeit eine Menge über das verlogene Gerede zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Insofern eine zu Recht nach pausenlosen 90 kurzweiligen Minuten mit langem Premieren-Beifallsjubel belohnte Vorstellung.

Nächste Aufführungen am 21. und 31.Mai; weitere Vorstellungen im Juni/Juli. Karten u.a. bei allen Ticketshops des GA.

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