Ausstellung im Kunstverein Mensch, Maschine, Poesie

Bonn · Die Britin Marvin Gaye Chetwynd hat den Bonner Kunstverein in eine Puppenbühne verwandelt. Sie eröffnet ihre erste große Ausstellung in Deutschland mit einer Performance.

 Marvin Gaye Chetwynd in ihrem Performance-Kostüm.

Marvin Gaye Chetwynd in ihrem Performance-Kostüm.

Foto: Franz Fischer

Als die Künstlerin Marvin Gaye Chetwynd erstmals den Raum des Bonner Kunstvereins sah, diesen Parcours rund um den zentralen Kubus, dachte sie sofort an eine Bühne, an einen Aktionsraum, bald auch an ein mechanisches Uhrwerk, an Spieluhren und Spielzeug. Kunstvereins-Chefin Michelle Cotton, die mit der in Großbritannien sehr bekannten, in Glasgow lebenden Londonerin Chetwynd schon immer eine Ausstellung machen wollte, überließ ihr den Raum. Und die bespielt ihn wie vorher nur Peter Kogler, den Annelie Pohlen vor 20 Jahren in den Kunstverein holte: Die gesamte Halle wird erfasst, verwandelt, wird zum Spielfeld für den Besucher, der gleichsam in die Kunst integriert erscheint.

Die 2012 für den Turner-Prize nominierte Marvin Gaye Chetwynd hat die Wände förmlich mit riesigen Fotokopien tapeziert, die die Kulissenteile und drei mechanischen Figuren im Innenraum wie ein Film begleiten. Dieser lässt hochemotionale Posen und Ballettszenen auf Momente des Puppenspiels treffen. Oft lässt sich nur erahnen, welche Szene von leibhaftigen Tänzern und welche von Automaten oder Marionetten gestaltet wird. Es ist ein „Film“ großer Affekte und plakativer Gesten.

Der Kontrast zu den Figuren, die auf einfachen Papierbahnen stehen, könnte nicht größer sein: An der Wand herrscht die glamouröse Welt der Illusion, auf dem Kunstvereinsboden geht es grob und holzschnittartig zu. Marvin Gaye Chetwynds Figuren, der Pianospieler, die wilde Rothaarige und die beiden Automatenmenschen im Käfig sind grell bemalt und plump, erinnern an Karnevals-Figuren. Durch eine Kurbel werden sie lärmend in Aktion versetzt. Die dabei wirkenden Nockenwellen gaben der Ausstellung den Titel: „Camshafts in the Rain“. Der Regen im Titel könnte sich auf eine Lieblingsfilmszene Chetwynds aus Ridley Scotts genialem Film „Blade Runner“ beziehen, in der die Replikantin Rachel zu weinen scheint – oder ist nur der Regen?

Für die Künstlerin steckt in dieser Grauzone zwischen Mensch und Maschine ganz viel Poesie und ein faszinierendes Feld für Spekulationen und Interpretationen. Der Raum im Bonner Kunstverein ruft danach, von Akteuren bespielt zu werden. An vier Tagen wird das passieren: Marvin Gaye Chetwynd wird dann in ihrem Element sein.

Sie ist Performance-Künstlerin, sie liebt die Aktion und die Verwandlung. Auch persönlich: Die 1973 als Alalia geborene Künstlerin nannte sich ab 2006 nach dem antiken Gladiator und späteren Sandalenfilmheld Spartacus: Spartacus Chetwynd. Und später lieh sie sich von dem Soulsänger Marvin Gaye den Namen aus. Eine bei allem Glamour, der ihn umgab, tragische Gestalt: Einen Tag von seinem 45. wurde Marvin Gaye von seinem Vater erschossen, die Waffe war ein Weihnachtsgeschenk des Sohnes.

Chetwynd ist fasziniert von Geschichten, recherchiert gerne. So sinnlich und theatralisch der Raum im Kunstverein auch daherkommt, es ist die Dokumentation einer breit angelegten Recherche zum Komplex Mensch, Maschinenmensch, Automat. Sie hat Bibliotheken nach Bildmaterial abgesucht, sich mit künstlerischen Umsetzungen des Themas von „Hoffmanns Erzählungen“ bis „Blade Runner“ befasst, hat sich sogar mit dem Bonner Falk Keuten und dessen Forschungen zu mechanischem Spielzeug beschäftigt.

Vom imitierten Leben in der Welt der Spielsachen zum inszenierten Leben auf der Bühne führt für Marvin Gaye Chetwynd ein direkter Weg. Die Uhrwerk-ähnliche Präzision der Bewegungen setzt sie in ihren Performances um oder konterkariert sie durch die Spontaneität des menschlichen Ausdrucks. Man wird sich die Performances ansehen und sich Chetwynd merken müssen, die in Bonn nun ihre erste institutionelle Ausstellung in Deutschland hat. Von den Marx Brothers hat sie in einem Interview geschwärmt, es sei so toll, wie jemand Filme machen könne, die wie Live-Shows wirken. Da hat sie sich für ihre Kunst einiges abgeschaut.

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