"Melodien für Millionen": Haus der Geschichte zeigt Historie des Schlagers

Vom Cartier-Halsband der Lilian Harvey bis zum weißen Bademantel des Udo Jürgens - Heimat, heile Welt und Herzklopfen

"Melodien für Millionen": Haus der Geschichte zeigt Historie des Schlagers
Foto: PA/ZB

Bonn. "Die Liebe zum populären Liedgut lebt davon, dass sie sich an Kleinigkeiten festmacht, an zwei, drei Zeilen eines Refrains, am unwiderstehlichen Outfit einer Sängerin, an der eigenartigen Aussprache eines Wortes oder an der Tiefgründigkeit des Backgroundchors", schreibt Rainer Moritz in seinem 2 000 erschienenen und lesenswerten Beitrag "Schlager" für die dtv-Reihe "Kleine Philosophie der Passionen".

"Zu Lieblingsschlagern werden auch Lieder, denen man mit Schaudern, ja mit Entsetzen lauscht, weil sie auf so klare Weise die Tollkühnheit dieser Gattung und ihrer Repräsentanten zeigen." Der deutsche Schlager ist ein Massenphänomen, das entweder geliebt oder gehasst wird. Gleichgültig lässt dieses Genre fast niemanden. Vor allem aber hat sich der deutsche Schlager von seinem ersten Höhepunkt in der Weimarer Republik angefangen über acht Jahrzehnte hinweg immer wieder selbst erfunden, immer wieder neu entdeckt, immer wieder entwickelt, gehäutet, aufgepeppt.

"Der Schlager reagiert auf den Zeitgeist, er ist lebendig", sagt folgerichtig Hanno Sowade, Projektleiter der neuen Ausstellung "Melodien für Millionen - Das Jahrhundert des Schlagers" im Bonner Haus der Geschichte. 1 500 Exponate drängen sich auf 650 Quadratmetern und bilden eine Zeitreise zwischen Eskapismus, Erotik und Exotik, Propaganda, Protest und Pop, Herzklopfen und Heimat, Technik und Tonträgern sowie Managern, Marketing und Massenbeseelung ab. Hans Walter Hütter, Präsident der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, spricht von einer "sehr dichten" Ausstellung.

Das ist sie in der Tat. Das von der Berliner Firma id3d mitentwickelte architektonische Konzept präsentiert dem Besucher ein "Aufnahmestudio", in dessen Mittelpunkt einzelne "Showbühnen" stehen, die einen chronologisch angelegten Rundgang durch die Schlagergeschichte ermöglichen: von der Weimarer Republik über das Dritte Reich und den Wiederaufbau nach 1945, die goldenen sechziger und siebziger Jahre bis hin zu aktuellen Tendenzen. In Exponaten veranschaulicht könnte man zusammenfassend sagen: Ein Streifzug vom edlen Cartier-Halsband einer Lilian Harvey, in den dreißiger Jahren mit dem angenehmen Beinamen "Das süßeste Mädel der Welt" bedacht, bis zur weißen Baskenmütze einer Annett Louisan, Chansonette mit Neo-Lolita-Charme.

Eine Sonderabteilung nimmt der DDR-Schlager ein, natürlich mit Reminiszenzen an Kultmoderator Heinz Quermann, Sänger wie Frank Schöbel, Duos wie Dagmar & Siegfried und die Plattenfirma Amiga. Besonderer Clou sind mehrere großflächige Touchscreens, also Monitore, die wie Plattentische in der Mitte der einzelnen Showbühnen stehen. Dort kann der Besucher wie an virtuellen Jukeboxen aus zahlreichen Titeln der Jahrzehnte, schön illustriert durch die Cover der Singles, Lieder mit dem Zeigefinger anwählen, die dann auf der jeweiligen Showbühne erklingen.

Insgesamt sind knapp 800 Titel abruf- und spielbar. Den Höhepunkt nicht nur im räumlichen Sinne nimmt eine Empore ein, die an die Zuschauertribünen der ZDF-Hitparade erinnert. 16 Stufen sind zu erklimmen, um vor der Dieter-Thomas-Heck-Vitrine in Ehrfurcht zu verweilen oder einen Blick auf einen der drei gläsernen Schimmel-Flügel des Udo Jürgens zu richten. Natürlich mit weißem Bademantel obendrauf, der übrigens einen frisch gewaschenen Eindruck macht.

Weiter unten ein Zeugnis für frühes Merchandising: Der zweisitzige Motorroller "Conny" der Firma Halleiner als Huldigung an Cornelia Froboess, als sie noch Conny hieß. Noch heute lässt sich recht konkret erleben, welche Reaktionen die Zwillingsschwestern Alice und Ellen Kessler während ihrer Japan-Tournee 1966 beim männlichen Punlikum hervorgerufen haben: Zwei sagenhaft geschnittene, silbern schimmernde Paillettenkleider für zwei Traumfiguren sind zu sehen. Aktuelle Trends und Helden runden den Gang ab. Die Renaissance der volkstümlichen Musik mit Mross, Hertel, Silbereisen und Co.

Die erfolgreichen, sexy und selbstbewusst auftretenden Schlager-Sängerinnen wie Andrea Berg, Kristina Bach und Michelle. Und die Ballermann-Fraktion um Jürgen Drews, auch bekannt als "König von Mallorca". Er und sein Kollege Costa Cordalis sind geeignete Beispiele für die ständige Neuerfindung im Schlager: Die Kornfelder und Anitas sind längst passé. Jetzt werden deutsche Texte mit Techno-Beats und einfachen Synthie-Riffs für den Strand oder die Skihütte aufgemotzt.

Bis 5. Oktober, 9-19 Uhr, Katalog (gebunden) 19,90 Euro.

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