Von Fluchten und Wahlheimaten Max Moor spielt "Unterleuten" in Bonn

Bonn · Unterleuten, der im vergangenen Jahr erschienene Roman der gebürtigen Bonnerin Juli Zeh, kommt jetzt ins Theater. Heute ist Premiere in den Kammerspielen.

 Kleinkrieg im großen Karo: Max Moor und Bernd Braun (von links) spielen die Dorfbewohner Gombrowski und Kron, die im 250-Einwohner-Kaff "Unterleuten" alte Fehden erbittert ausfechten.

Kleinkrieg im großen Karo: Max Moor und Bernd Braun (von links) spielen die Dorfbewohner Gombrowski und Kron, die im 250-Einwohner-Kaff "Unterleuten" alte Fehden erbittert ausfechten.

Foto: Thilo Beu

"In Unterleuten ist es wie überall:

Jeder Mensch bewohnt sein eigenes

Universum, in dem er von morgens

bis abends recht hat."

Juli Zeh

Dieses Dorf braucht keine Fake News aus dem Internet. Denn der Dorftratsch erweist sich als weitaus effizienter, wenn es gilt, neue Wahrheiten zu schaffen und Menschen zu vernichten. In diesem Dorf liest man keine Zeitung, man ruft nie die Polizei und vermeidet jeden Kontakt mit der Außenwelt. Unterleuten heißt dieses Dorf mitten in Brandenburg. Auf der Landkarte sucht man es vergebens. Es entsprang der Fantasie der Schriftstellerin Juli Zeh, als Schauplatz ihres gleichnamigen Romans, der 2016 erschien.

Eine Ost-West-Geschichte, eine Stadt-Land-Geschichte, eine Geschichte über Macht und Ohnmacht, über Flucht vor der Vergangenheit und Flucht vor der Zukunft. Und außerdem eine Geschichte über frustrierte Gebliebene und über egozentrische Zugezogene aus der Großstadt, die das Landleben idealisieren und sich nicht integrieren und stattdessen dem Dorf ihre importierten Illusionen überstülpen.

250 Bewohner, für die Bühne reduziert auf knapp zwei Dutzend Rollen, die sich acht Schauspieler teilen. Wer das Sagen hat im Dorf, das ist während der Probe am Vormittag bis in die hinterste Reihe des verwaisten Zuschauerraums körperlich spürbar. Zwei sich seit DDR-Zeiten hassende alte Männer. Alte Geschichten, alte Rechnungen, alte Seilschaften, alte Feindschaften. Gombrowski heißt der eine, der mit den raumgreifenden Gummistiefeln, Kron der andere, der seine Krücke als respekteinflößendes Ausrufezeichen nutzt.

Punkt 13 Uhr beendet Regisseur Jan Neumann schweren Herzens die Probe. Die Bühnenarbeiter kennen kein Pardon, die Dorfkulisse muss nämlich nun wieder in aller Eile verschwinden und einer psychiatrischen Klinik Platz machen, denn am Abend stehen "Die Physiker" auf dem Spielplan. Das Dorf hat nun Pause bis 18 Uhr, dann werden die Proben in Beuel weitergehen, bis in den späten Abend, aber ohne Kulissen.

Was macht ein Moderator auf einer Theaterbühne?

Der Hunger treibt die Schauspieler um eins von der Bühne der Godesberger Kammerspiele, in der Garderobe gelingt den beiden alten Männer binnen zehn Minuten eine verblüffende Verjüngungskur: Aus Kron wird Bernd Braun, Jahrgang 1954, ihn kennt man seit 14 Jahren als Mitglied des Bonner Ensembles. Aus Gombrowski wird Max Moor, Jahrgang 1958, den kennt man als Moderator des ARD-Kulturmagazins "Titel, Thesen, Temperamente".

Wir gehen zu dritt zum Italiener um die Ecke. Was macht ein Fernsehmoderator auf einer Theaterbühne? Umgekehrt wird ein Schuh draus: Der gebürtige Schweizer ist gelernter Schauspieler, versehen mit Diplom der Zürcher Schauspielakademie - und dem frühen Ritterschlag, mit 21 Jahren für den internationalen Kinofilm "Der Maulwurf" gecastet zu werden und neben Lino Ventura und Michel Piccoli spielen zu dürfen.

Über ihren Roman hat Juli Zeh gesagt, es gebe "keine Wahrheit, nur Perspektiven". Ein Satz, den Max Moor unterschreiben kann: "Michel Piccoli fand ich bis dahin nicht nur als Schauspieler toll, sondern auch, weil er Sozialist war." Während Lino Ventura in seinen Filmrollen das Image als Law-and-Order-Rambo pflegte. Die Dreharbeiten stellten Moors Vorurteile über die beiden Stars gründlich auf den Kopf: Piccoli entpuppte sich als eitler, arroganter Snob, während Ventura als väterlicher Kollege stets darauf bedacht war, dem jungen Nachwuchsmimen aus Zürich das Lampenfieber zu nehmen und Selbstbewusstsein einzuimpfen.

Auch Bernd Braun hat nicht nur Theater gemacht, sondern auch Fernsehen und Kino. Bei der Defa. In Ostberlin geboren und aufgewachsen, erlebte er als Siebenjähriger den Bau der Mauer. Hautnah. "Unser Haus stand genau an der Zonengrenze, zwischen Treptow und Neukölln. Frühmorgens traten Volks-polizisten unsere Wohnungstür ein. Die Nachbarn sind aus dem Fenster gesprungen und an mir vorbeigeflogen."

Mit Zigarre in Montevideo - daraus wurde nichts

Braun lernte seinen Beruf an der berühmten "Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch" in Ostberlin, spielte anschließend am Staatstheater Schwerin und nebenher vor der Kamera in den legendären Babelsberger Studios. Bis er für einen Defa-Spielfilm ausgewählt wurde, der im weiteren Verlauf der Dreharbeiten einen Außendreh auf einem Schiff erforderlich machte. Rostock-Südamerika und zurück. "Ein bisschen Freiheit schnuppern, wenigstens mal für eine kurze Weile rauskommen aus diesem Gefängnis namens DDR. Ich sah mich schon mit einer dicken Zigarre die Gangway im Hafen von Montevideo runterschlendern."

Daraus wurde nichts. Wenige Tage vor dem Auslaufen erhielt Braun die Absage. Jemand musste ihn bei der Stasi angeschwärzt und als politisch unzuverlässig gebrandmarkt haben. Der ultimative Karriereknick. Erst später wurde aus der Vermutung Gewissheit. Braun stellte einen Ausreiseantrag. 1984 durfte er gehen. Braun unterrichtete in Hamburg, spielte Basel, Zürich, Konstanz, Mainz und Oberhausen und folgte schließlich dem dortigen Intendanten Klaus Weise 2003 nach Bonn. Der Schauspieler wohnt in der Südstadt. Hatte er nach dem Fall der Mauer 1989 je darüber nachgedacht, zurück in die alte Heimat zu ziehen? "Nein. Keine Sekunde. Dort leben zu viele Menschen, denen ich nie wieder begegnen möchte."

Einmal war eine solche Begegnung nicht zu verhindern. Ausgerechnet in Bonn. Auf der Bühne der Kammerspiele. Braun wurde für eine der Hauptrollen verpflichtet - und entdeckt vor Beginn der Proben auf der Besetzungsliste den Namen eines Gastschauspielers, der im Stück seinen Vater spielen sollte. Ein ehemaliger enger Kollege aus dem Osten. Der Denunziant von damals, der seine Karriere unbeirrt ausbauen konnte und nach der Wende auch noch im gesamtdeutschen Fernsehen und Kino reüssierte. Braun zog es durch, Braun ist Profi. Er ging sogar zur Premierenfeier.

Bestseller-Autorin Juli Zeh, in Bonn geboren und aufgewachsen, als Tochter des Direktors der Bundestagsverwaltung, machte Abitur am Pädagogium Otto-Kühne-Schule. Studium des Völkerrechts unter anderem in New York, Praktikum bei der UNO in New York, promovierte Juristin. Seit zehn Jahren lebt sie in einem Dorf in Brandenburg.

Aus der Schweiz in ein Dorf in Brandenburg

Wir wissen nicht, was sie dazu bewogen hat. Von Max Moor wissen wir es. Vor 14 Jahren zog er mit seiner Frau aus der Schweiz nach Hirschfelde in Brandenburg, ein Dorf mit 300 Einwohnern, kaum größer als Unterleuten. Sonja Moor gab ihren Job als Filmproduzentin auf und absolvierte eine landwirtschaftliche Lehre, das Paar bewirtschaftet in Hirschfelde biologisch-dynamisch einen 70-Hektar-Hof nach Demeter-Richtlinien und gründete zudem ein Projekt "Modelldorf Hirschfelde für ein ökologisches und soziales Miteinander".

Nicht jeder in Hirschfelde finde das gut, schrieben die örtlichen Medien. "Das sind vor allem die Zugezogenen, die keine Veränderung wollen und sich außerdem über das Muhen von Kühen und das Krähen von Hähnen ereifern", versichert Moor.

Zwei Bücher hat der Schweizer über die neue Heimat geschrieben (2009 und 2012) und sie darin wörtlich als "arschlochfreie Zone" beschrieben. Bei der jüngsten Bundestagswahl im September wählten die Hirschfelder mit großer Mehrheit die AfD zur mit Abstand stärksten Partei. Da geht selbst Moor der Text aus. "Meine Aufgabe als Demokrat ist es, die AfD auszuhalten", schaltet sich Bernd Braun beim Mittagessen ein. "Für das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht bietet die AfD den Leuten ein Ventil. So wie lange Zeit die Linke."

Dann reden wir eine Weile über das genmanipulierte Saatgut des Monsanto-Konzerns, über die Diesel-Affäre, über die Weltklimakonferenz in Bonn, über die Metalle der Seltenen Erden, die zur Herstellung unserer Smartphones benötigt werden und von Sklavenarbeitern in der Dritten Welt gehoben werden. "Es ist Zeit für eine demokratische Revolution", sagt Moor schließlich. "Nein", widerspricht Braun vehement. Und Juli Zeh hat dazu mal im Fernsehen gesagt: "Demokratie ist kein Verfahren, um wirklich ein gutes Ziel zu erreichen ... Demokratie ist nicht die Methode zum Ermitteln des besten Ergebnisses, sondern eine Methode, um Macht zu zerstreuen."

"Jeder Schweizer ist der Polizist des Nachbarn"

Und warum ist Max Moor denn nun nach Brandenburg ausgewandert? "Es gibt eine Außensicht auf die Schweiz, auf die schöne Landschaft zum Beispiel. Und es gibt eine Innensicht", sagt er. "Wenn man dort aufgewachsen ist, hat man eine paramilitärische Schulzeit erlebt und ein Land, das wie eine Modelleisenbahn durchgeplant und reguliert ist. Jeder Schweizer ist der Polizist des Nachbarn. Das war für uns nicht mehr zum Aushalten."

In Unterleuten prallen die alten Weltbilder aufeinander, als hätte es nie eine Wende gegeben. "Vielleicht müssen wie auf der Bühne die Protagonisten des Kommunismus und des Kapitalismus erst tot sein, damit etwas Neues entstehen kann", sagt Moor. Der Kommunismus ist tot. Aber der Kapitalismus? "Der liegt in den letzten Zügen - oder er wird uns alle umbringen."

Noch drei Stunden bis 18 Uhr. Bernd Braun verabschiedet sich, er will noch mal schnell nach Hause, bevor die nächste Probe beginnt. Vor dem Restaurant steckt sich Max Moor, der für die Zeit des Bonner Engagements nicht im Hotel, sondern bei Freunden in Wachtberg untergekommen ist, erst mal eine Zigarette an und sagt über den Mann aus dem Osten, seinen erbitterten Widersacher auf der Bühne, den er seit sechs Wochen Probenarbeit kennt: "Prima Typ, der Bernd. Echt."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Die Stunde der Sieger
Abschluss Deutscher Musikwettbewerb in Bonn Die Stunde der Sieger
Zum Thema
Aus dem Ressort