Kölner Wallraf-Richartz-Museum Klecksografie von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert

KÖLN · Der Klecks auf dem Papier unterscheidet den Könner vom grobmotorischen Stümper. Der unachtsam verursachte Fleck ist der GAU in der Kunst, macht aus einem Meisterwerk Ausschuss.

 Studienblatt mit Klecksen von Girolamo Troppa.

Studienblatt mit Klecksen von Girolamo Troppa.

Foto: Museum

Kein Wunder, dass Thomas Ketelsen, Leiter der Graphischen Sammlung am Kölner Wallraf-Richartz-Museum, bei der Suche nach Klecksen und Flecken im Bestand praktisch nicht fündig wurde. Ausschussware gelangt gewöhnlich nicht auf den Kunstmarkt und in Sammlungen.

Immerhin zwei Studienblätter des römischen Barockmeisters Girolamo Troppa förderte er zutage, bei denen die mit dem Rötelstift ausgeführten Skizzen, wohl Entwurfe für Gemälde, jeweils Farbkleckse abbekommen hatten. Ein blöder Zufall, halb so schlimm, weil es sich bei den Werken um schlichte Arbeitsblätter im Atelier handelte.

Der Klecks an sich aber machte Karriere: "Das 19. Jahrhundert kann man als Jahrhundert des Kleckses, der Klecksografie bezeichnen", meint Ketelsen. Dieses für Okkultes und unergründliche Seelenwelten, für das Gefühl und das Unbewusste so offene Jahrhundert fand im Klecks ein neues Prinzip der Kunst.

Das nimmt mit der Initiation, dem zufälligen Klecksen, seinen Ausgang; dann folgt die Imagination, die die Vorstellungskraft aktiviert; und schließlich mündet alles in eine künstlerische Auseinandersetzung, bei der aus dem Zufallsklecks ein Kunstwerk wird. Lange vor dem "Dripper" Jackson Pollock, vor den Surrealisten, vor Sigmar Polke und Gerhard Richter war also der Klecks als Motor der Kunst in der Welt.

Die kleine Ausstellung im Wallraf, "Die Klecksografie - Zwischen Fingerübung und Seelenschau", konzentriert sich weitgehend aufs 19. Jahrhundert, in dem der Dichter E.T.A. Hoffmann mit seiner Erzählung "Der Goldene Topf" dem Fleck als Betriebsunfall der Kunst ein Denkmal setzte.

Die Schau beginnt mit einer Neuerwerbung der Sammlung, das Blatt eines Unbekannten, um 1820: Der Tintenfleck in der Mitte ist Ausgangspunkt für eine Komposition, bei der der geschwungene Rand des Flecks die Anregung zu insgesamt sechs Porträts gab, die im Profil zu sehen sind und sich wie ein Kranz um den Klecks gruppieren.

Mag hier der Zufall am Anfang gestanden haben, so beginnt beim Arzt, Dichter und Zeichner Justinus Kerner die Arbeit mit dem Klecks eher zielgerichtet. Sein Verfahren, einen Farbklecks - in der Art des 60 Jahre nach Kerners Tod publizierten Rorschachtests - durch Falten des Papiers und Daumendruck zu einem symmetrischen, abstrakten Gebilde werden zu lassen, öffnete der Fantasie Tür und Tor. Mit feinem Federstrich entwickelte der Arzt die symmetrischen Kleckse weiter zu Fabelwesen, die er in einem Reich zwischen Himmel und Erde ansiedelte. Rund tausend "Klecksografien" entstanden an Kerners Schreibtisch, sein Nachlass befindet sich im Literaturarchiv Marbach.

Kerners bizarre Gebilde öffneten den Blick in die Welt des Unbewussten, in der der Künstler nur mehr Medium ist, das die Zeichen deutet. Kerners Experimente mit dem Unbewussten müssen in einem Zusammenhang mit seinem Arztberuf gesehen werden. Kerner hatte eine prominente Patientin, die als Seherin von Prevorst bekannte Friederike Hauffe, die bei ihm wegen Somnambulismus (Mondsucht) in Behandlung war. Sie war wohl auch von Geistern besessen, heißt es. Kerners veröffentlichter Krankenbericht der "Seherin" wurde zum Bestseller.

Das Geheimnis der Kleckse zog im 19. Jahrhundert weite Kreise - Victor Hugo und James Ensor haben damit experimentiert, der Bildhauer Hippolyte Lefèbvre schuf wunderbare Klecks-Miniaturen. Dass es diese Faszination für die vorgefundene amorphe Form, die den Künstler zur figuralen Ausdeutung reizt, nicht erst im 19. Jahrhundert gab, dokumentiert ein Zitat Leonardos: "Ich habe in den Wolken und an den Mauern Flecken gesehen, die mich zu schönen Erfindungen verschiedenster Dinge anregten."

Kurator Ketelsen hat als Anregung für die Besucher wunderbare, zarte Wolkenimpressionen des Kölner Rokoko-Meisters Johann Anton Peters gehängt. Außerdem eine auf bunt marmoriertem "Wolkenpapier" um 1600 entstandene Zeichnung: Die wilden Wolken animierten den unbekannten Zeichner zu einer dramatischen mythologischen Szene, in deren Verlauf der Gott Jupiter die entführte Io verführen will, während Gattin Juno von rechts oben mit erhobenem Zeigefinger heranrauscht. Drama in den Wolken.

Wallraf-Richartz-Museum, Köln; bis 13. Oktober. Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr. Katalogheft 10 Euro. Vortrag: "Gesichter sehen - Suggestive Bilder bei Hieronymus Bosch" von Reindert Falkenburg am 15. August, 19 Uhr im Stiftersaal

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