"Junge Kritikerwerkstatt": Ein Theaterbesuch zum Auftakt der neuen Serie

"Junge Kritikerwerkstatt" im Feuilleton des General-Anzeigers:

 Es beginnt mit tösendem Geschrei: (von links) Nikolai Plath, Nina Tomczak, Hendrik Richter und Anastasia Gubareva.

Es beginnt mit tösendem Geschrei: (von links) Nikolai Plath, Nina Tomczak, Hendrik Richter und Anastasia Gubareva.

Foto: Thilo Beu

In der neuen Serie "Junge Kritikerwerkstatt" im Feuilleton möchten wir junge Menschen ab zwölf Jahren einladen, unsere Artikel durch ihre eigenen Eindrücke und Einschätzungen zu ergänzen. Konkretes Beispiel: Ein Redakteur und ein junger Kritiker besuchen gemeinsam eine Theateraufführung. Daraus entstehen zwei Texte.

Sein Thema sucht sich der junge Autor in Absprache mit der Redaktion selbst aus. Nach diesem Muster sollen Texte aus allen Bereichen der Kultur entstehen. Den Auftakt machen heute GA-Redakteur Dietmar Kanthak und Gymnasiast Malte Huck, die gemeinsam eine Vorstellung von Peter Handkes "Kaspar" in der Werkstatt besucht haben.

Der Bonner Kaspar ist weit gelaufen. Seit Juni 2010 steht Alexander Riemenschneiders Inszenierung von Peter Handkes "Kaspar" auf dem Spielplan, sie ist gelobt und ausgezeichnet worden. Eine Frage liegt dennoch nahe: Ist der Produktion auf dem langen Weg zum Publikum ein bisschen der Atem ausgegangen, merkt man ihr das Alter an? Allein der Auftritt von Hendrik Richter, gerade von einer Krankheit genesen, zerstreute alle Zweifel. Richter steigerte als Kaspar Sprachlosigkeit zur Kunstform, er spielte auf phänomenale Weise einen Mann mit "Schmerzen im Kopf". Der lernt sprechen, um als Persönlichkeit geboren zu werden und ein Bewusstsein zu entwickeln. Das stellt Richter dar wie einen Prozess unter Folter. Danach ist er vor den Augen des Publikums von Sätzen geplagt und von Wörtern gejagt, bis er einen Zustand der Gelassenheit erreicht und zeitweise verstummt.

Ich persönlich mag keine Publikumsteilnahme im Theater, es sei denn, man würde mich dafür bezahlen. Aber hier wurden wir im Parkett gern Teil der Inszenierung, es gab Sekt und Kekse fürs Publikum. Die Schauspieler wandten sich ein ums andere Mal an die Zuschauer, Anastasia Gubareva gab mir sogar die Hand. Diesen "Kaspar" werde ich nicht vergessen.

Dietmar Kanthak

Die nächste Aufführung: 30. März. Karten: unter anderem in den Ticketshops des General-Anzeigers und bei bonnticket.de

Wenn man in meinem Alter das Wort "Theater" hört, assoziiert man damit meistens eine etwas altmodische, schwer verständliche und teilweise langweilige Form der Unterhaltung. Man rechnet nicht damit, dass aktuelle und interessante Themen behandelt werden, dass man Spaß hat, dass man schlauer wird und dass man letztlich wirklich unterhalten wird; doch genau diese Kriterien erfüllte die Aufführung "Kaspar", geschrieben von Peter Handke und veröffentlich im Jahr 1967, in der Bonner Werkstatt.

Bereits die Eröffnung des Stückes übertraf alle Erwartungen und weckte die Zuschauer auf: Die Protagonisten Kaspar (Hendrik Richter) und die Einsager (Anastasia Gubareva, Nina Tomczak und Nikolai Plath) eröffnen das Stück nach langem Schweigen mit tösendem Geschrei und hektischen Bewegungen. Durch diese rasante und erschreckende Situation gewinnen die Schauspieler das Publikum bis zum letzten Mann für sich. Und diese Aufmerksamkeit ist auch nötig!

Denn was nun folgt, ist Handkes unglaubliche Aneinanderreihung von Wortspielen und Kausalketten. "Ich möcht ein solcher werden wie einmal ein andrer gewesen ist." Dies sind die einzigen Worte, die Kaspar, in Anlehnung an den "rätselhaften Findling" Kaspar Hauser, zu Beginn des Stückes sagen kann. Mit dem Beginn seiner Sozialisierung und seiner Eingliederung in die Gesellschaft jedoch begreift er langsam die Bedeutung des Satzes, des Wortes und sogar jedes einzelnen Buchstabens. In der folgenden guten Stunde lernt er alle Facetten und Einflüsse der Sprache auf das Leben kennen.

Er merkt, dass Sprache vereint, dass man erst mit der Sprache Kontrolle über das Leben bekommen kann, dass Sprache Ordnung bringt, dass man erst mit Sprache unterscheiden und differenzieren kann, dass Sprache Macht und Freiheit bringt und dass es eigentlich nur die Sprache ist, die uns von den Tieren unterscheidet.

Er merkt allerdings auch, dass die Sprache ihn einengt, dass die Sprache große Verantwortung bringt, da Sprache, gerade in der modernen Zeit, eine ungeheuer große Rolle spielt. Dass Sprache manchmal eine Belastung ist, dass Sprache alle Menschen gleich macht, dass Sprache verändert und dass sie verwirrt.

"Kaspar" regt zum Nachdenken an! Das Stück zeigt, dass ein "Tisch" nur dann ein Tisch ist, wenn wir eine Bezeichnung dafür haben, wie nihilistisch manche unserer Worte und Aussagen sind, wie wir uns mit Sprache unterhalten, aber nie wirklich verstehen können, und wie wichtig Sprache selbst in Zeiten von Krieg und Naturkatastrophen immer noch ist.

Rückblickend kann ich nur jedem empfehlen, sich dieses Stück anzugucken. Die Inszenierung von Alexander Riemenschneider ist atemberaubend, die Schauspieler erfüllen die Aufgabe ihrer Rollen hervorragend und gehen auf eine ungewohnte Art auf die Zuschauer ein; Peter Handkes Stück ist zeitgenössischer und unterhaltsamer denn je und hat zu Recht den Preis für die "Beste Inszenierung beim NRW-Theatertreffen 2011" gewonnen!

Malte Huck

Wer Interesse hat, an unserer Serie teilzunehmen, melde sich bitte per E-Mail unter junge-kritikerwerkstatt@ga.de oder telefonisch unter (0228) 6688444.

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