Bonn im Roman John le Carré: "Eine kleine Stadt in Deutschland"

Bonn · Aus dem Archivkeller der britischen Botschaft in Bonn verschwinden 43 Aktenordner. Und mit ihnen verschwindet Leo Harting, Mädchen für alles in der diplomatischen Vertretung des Vereinigten Königreichs in der neuen Hauptstadt des neuen Verbündeten.

 Geheimnisvolle Frontstadt im Kalten Krieg: Bonner Adenauerallee, rechts das Auswärtige Amt.

Geheimnisvolle Frontstadt im Kalten Krieg: Bonner Adenauerallee, rechts das Auswärtige Amt.

Foto: Heinz Engels

Außerdem ist er Everybody's Darling im nüchternen Zweckbau an der B9, weil er weiß, wo und wie man die günstigsten Trockenhauben oder Transistorradios besorgt...

Ansonsten ist dieser Leo Harting die personifizierte Unauffälligkeit, ein Junggeselle mit Büro im Keller und bescheidenem Häuschen in Königswinter, ein kleines, perfekt funktionierendes Zahnrad im diplomatischen Getriebe, ein Geheimnisträger, der sogar seine Affäre mit der First Lady der Botschaft geheim halten kann.

Die fein gesponnene Hierarchie in dieser britischen Exklave mitten im tristen Niemandsland zwischen Bonn und Bad Godesberg erweist sich als ebenso undurchlässig wie die indische Kastengesellschaft. Und Leo Harting ist dummerweise Deutscher von Geburt, einst vor den Nazis nach England geflohen und später mit den Siegern zurückgekehrt. Und jetzt ist er weg.

London schickt Alan Turner nach Bonn, den Mann fürs Grobe, ein Paria wie Leo Harting. Leo habe vermutlich für die Russen spioniert und sei deshalb abgetaucht, heißt es, und deshalb soll Turner ihn finden. Ihn und die 43 Aktenordner.

So startet John le Carré in seinen fünften Roman. "Eine kleine Stadt in Deutschland" erscheint erstmals 1968 in englischer und in deutscher Sprache und spielt in der Zeit der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. Die NPD sitzt in sieben Landesparlamenten und erzielt in Baden-Württemberg fast zehn Prozent.

"Schmutzig und geheimnisvoll"

Und Bonn ist nicht nur Hauptstadt, sondern (neben Berlin) Frontstadt eines Krieges, des Kalten Krieges, der nicht mit Panzern und Granaten, sondern mit Lügen und Intrigen, Betrug und Verrat ausgefochten wird und als Kollateralschäden seelische Wracks hinterlässt. John le Carré weiß, wovon er schreibt. Schließlich arbeitete er Anfang der 60er drei Jahre in Bonn, offiziell als Zweiter Botschaftsrat, inoffiziell als Agent des britischen Geheimdienstes MI6.

Der Schauplatz seines Romans ist noch weit davon entfernt, sich "nördlichste Stadt Italiens" zu nennen. Gleich auf den ersten Seiten des Prologs steht zu lesen: "Bonn glich einer Stadt auf dem Balkan, schmutzig und geheimnisvoll, überzogen mit Straßenbahndrähten. Bonn glich einem dunklen Haus, in dem gerade jemand gestorben war, einem mit katholischem Schwarz drapierten und von Polizisten bewachten Haus."

"Eine kleine Stadt in Deutschland" ist auch heute noch, fast ein halbes Jahrhundert nach der ersten Veröffentlichung, ein großartiger Roman. Weil er eine faszinierende Reise ermöglicht, eine Zeitreise in eine fremde Welt gleich vor unserer Haustür. Bedauerlicherweise zählt er zu den (ganz wenigen) erfolglosen Werken des Großmeisters des politischen Thrillers, dessen Bestseller immer wieder literarische Steilvorlagen fürs große internationale Kino lieferten - von "Der Spion, der aus der Kälte kam" mit Richard Burton über "Der ewige Gärtner" mit Ralph Fiennes bis "A Most Wanted Man" mit dem unvergesslichen, 2014 gestorbenen Philip Seymour Hoffman in seiner letzten Hauptrolle.

"Eine kleine Stadt in Deutschland" war vielleicht zu deutsch und vielleicht zu still für den internationalen Erfolg. Und für den nationalen Erfolg in jener Zeit vielleicht zu wahr. Denn Deutschland wollte damals so schnell wie möglich vergessen, was zwei Jahrzehnte zuvor geendet war und doch nicht so ganz geendet war.

Die Pandorabüchse des Nazismus

John le Carré, der Heine und Tucholsky verehrt und die deutsche Sprache liebt (und akzentfrei beherrscht), sagte später über seinen Bonn-Roman: "Das Buch spielt mit der Vorstellung vom Schlimmsten, das passieren könnte. Die Alliierten teilten in den Jahren der jungen Bundesrepublik die Angst, ein kapitalistisches, rechts-gerichtetes Deutschland zu unterstützen und damit die Pandorabüchse des Nazismus zu öffnen."

Westdeutschland war zwar politisch ein Zwerg, aber schon auf dem besten Weg, zum volkswirtschaftlichen Riesen zu mutieren. "Es war eine schizophrene Situation, so schizophren wie die junge Bundesrepublik und die DDR", erinnert sich der ehemalige britische Diplomat.

"Und so grotesk wie das geteilte Land war auch das politische Gehabe. Die Komödie, die wir Geheimdienstler dabei spielten, war schier unglaublich. Wir wussten um die Nazi-Vergangenheit Globkes und Achenbachs, und manche von uns hatten das mulmige Gefühl, dass in einem Land, in dem diese Leute politische Macht bekommen, etwas diabolisch schiefgehen kann. Man muss sich diesen historischen Moment einmal vorstellen: Reinhard Gehlen zog mit seiner Organisation, die wie er zu Hitlers Abwehr an der Ostfront gehört hatte, in Martin Bormanns Villa in Pullach, um dort den BND aufzubauen."

Allmählich erkennt Alan Turner das wahre Motiv des kleinen, unscheinbaren, untergetauchten Mannes, den er finden soll: Leo Harting betreibt keine Geschäfte mit Moskau, sondern ist einem politischen Emporkömmling auf den Fersen, einem charismatischen Deutschnationalen, der von Woche zu Woche mehr Anhänger um sich schart.

Nur Leo Harting könnte dessen Vergangenheit sichtbar werden lassen, die dunklen Flecken aus Blut auf dessen weißer Weste. Aber John le Carré wäre nicht der Großmeister der politischen Desillusionierung, würden das Gute und das Gerechte am Ende ausgerechnet in Bonn siegen.

John le Carré: Eine kleine Stadt in Deutschland. List Verlag, 378 Seiten, 9,95 Euro

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