Rockgruppe Can Irmin Schmidt: "Wir wollten uns befreien"

Irmin Schmidt war Gründer und Keyboarder der stilprägenden Rockgruppe Can. Die veröffentlicht nun umfangreiches Archivmaterial.

 Seit mehr als 50 Jahren im Geschäft: Irmin Schmidt.

Seit mehr als 50 Jahren im Geschäft: Irmin Schmidt.

Foto: Paul Heartfield

Von Radiohead bis Brian Eno, von Sex Pistols bis Sonic Youth - die Liste der Musiker, die sich auf Can berufen, ist lang. Die Kölner Avantgarde-Rockgruppe gilt neben Kraftwerk als einflussreichste deutsche Band. Bekannt wurde sie 1971 durch den Hit "Spoon" aus dem TV-Straßenfeger "Das Messer". Am 12. Juni veröffentlichen Can ein Dreifach-Album. "The Lost Tapes" ist eine Sammlung von unveröffentlichten Stücken aus den Jahren 1968 bis 1977.

Demnächst erscheinen die "Lost Tapes" - die verlorenen Aufnahmen von Can. Wo haben Sie sie wiedergefunden?
Irmin Schmidt: Sie waren nicht verloren. Sie lagen in unserem Archiv und wurden mit der Zeit vergessen. Außer von meiner Frau Hildegard, die als Managerin das Werk von Can hütet. Sie bearbeitete mich so lange, bis ich mich diesem Haufen alter Bänder widmete. 50 Stunden Material, die gesichtet, geordnet und mehrmals durchgehört, verglichen und editiert werden mussten. Kurzum: Das war jede Menge Arbeit.

Welches Material ist auf den drei CDs enthalten?
Schmidt: Es sind drei Komplexe. Filmmusiken, Konzertmitschnitte und Studioaufnahmen, die wir bisher nie veröffentlicht haben. Nicht weil wir sie schlecht fanden. Sie passten nur nicht zu der Auswahl, die wir für die jeweiligen Platten festlegten. Bei den Filmmusiken haben wir zum Beispiel meist nur das Titelstück veröffentlicht, nicht aber Szenenmusiken - die aber auch ihren Reiz haben. Wir nahmen Filmmusik immer so auf, dass sie auch für sich alleine stehen konnte und ohne die bewegten Bilder funktionierte.

Haben Sie manche Archivfunde überrascht?
Schmidt: Bei der Filmmusik wusste ich relativ genau, was mich erwartete. Die Musik zu Wolfgang Menges "Millionenspiel" von 1970 zum Beispiel. Die ist bislang nie veröffentlicht worden, auch weil der Film mehr als 30 Jahre nicht gezeigt werden durfte. Es gab aber noch einige Studioaufnahmen mit unserem ersten Sänger Malcolm Mooney, an die ich mich gar nicht mehr erinnerte. Es wundert mich, dass die uns so lange verborgen blieben. Jetzt aber ist unser ganzes Archiv durchforstet - das war's, wir haben nichts mehr.

Sie haben eine klassische Ausbildung als Musiker, waren Dirigent, studierten bei Karlheinz Stockhausen - und gründeten dann mit 30 eine Rockgruppe. Wie kam's?
Schmidt: Als Komponist war ich in den 60ern unzufrieden. Die Neue Musik, mit der ich mich beschäftigte, reichte mir allein nicht aus. Es gab ja auch außerhalb davon spannende neue Entwicklungen: im Jazz, in der Rockmusik. Ich war von der Idee besessen, dass all das Neue zusammengehörte. Deshalb wollte ich eine Gruppe, die das vereint. Unseren Bassisten Holger Czukay kannte ich von Stockhausen, Jaki Liebezeit war Jazz-Drummer. Und Michael Karoli war das, was man damals als Beatgitarrist bezeichnete. Wir hatten uns als Musiker jede Menge anstudiert, davon wollten wir uns befreien.

Welchen Einfluss hatte Stockhausen auf Can?
Schmidt: Auf Holger und mich einen ganz gewaltigen, was das Verständnis von elektronischer Musik betrifft. Ein Beispiel: Für die Musik zu "Ein großer graublauer Vogel" habe ich Klänge aus dem Kurzwellenradio aufgenommen. Dazu haben wir dann im Studio gespielt. Dieses Stück heißt "Graublau" und ist auf den "Lost Tapes" enthalten.

Wie kann man sich die Arbeit von Can im Studio vorstellen?
Schmidt: Es lief alles gemeinsam, ganz spontan. Wir fingen bei Null an, improvisierten, und wenn wir auf eine interessante Idee stießen, haben wir die sehr konzentriert weiterentwickelt. Das bedeutete, dass jeder beim Spielen genau auf den anderen hören musste. So machten wir oft stundenlang Aufnahmen. Anschließend nahmen wir die Bänder auseinander und setzten sie neu zusammen. Diese Montage war ein ganz wesentliches Element unserer Musik. Jaki wurde fuchsteufelswild, wenn wir dabei den Groove zerstörten.

Das Can-Studio war in Weilerswist. Hat sie diese ländliche Umgebung inspiriert?
Schmidt: Eigentlich nicht. Wir waren zunächst in einen Raum im Schloss Nörvenich. Dort mussten wir raus, weil wir zu viel Lärm machten. Wir fanden dann das alte Dorfkino in Weilerswist, das Pleite gemacht hatte und schwer zu vermieten war. Für uns hingegen waren die Räume ideal.

Und es gab keine Beschwerden?
Schmidt: Nein, wir hatten alles abgedichtet. Unser Techniker René Tinner führte das Studio nach dem Ende von Can 1979 weiter und machte dort später viele prominente Produktionen, etwa mit Trio und mit Westernhagen.

Stehen Sie noch im Kontakt zu den früheren Can-Mitgliedern?
Schmidt: Michael lebt leider nicht mehr, er war einer meiner engsten Freunde. Ansonsten stehe ich noch in Kontakt zu allen. Mit Jaki habe ich kürzlich noch gearbeitet. Wir haben mit Jono Podmore und Burnt Friedman, unseren jeweiligen musikalischen Partnern, etwas eingespielt. Quasi als Doppel-Duo. Mal sehen, was daraus wird.

Was steht sonst noch an? Machen Sie weiterhin Filmmusik?
Schmidt: Sehr gerne, aber das ist nur eines meiner Tätigkeitsfelder. Ich möchte seit einiger Zeit ein großes Orchesterstück schreiben. Das sind noch aber ungelegte Eier. Ich habe meine Liebe zu herkömmlichen Klangkörpern wie Sinfonieorchestern nie verloren.

Can

1968 symbolisiert den gesellschaftlichen Umbruch in Europa. Im selben Jahr gründeten Holger Czukay (Bass), Jaki Liebezeit (Schlagzeug), Michael Karoli (Gitarre) und Irmin Schmidt (Keyboards) eine revolutionäre Band: Can. Sänger war zuerst Malcolm Mooney, später Damo Suzuki. Die Gruppe brach mit herkömmlichen Songstrukturen und mischte verschiedene Stile und Einflüsse von Rock über ethnische Musik bis hin zu elektronischen Experimenten; charakteristisch auch die repetitiven, tanzbaren Rhythmen. Can nahmen sowohl den Punk als auch Techno und Ambient vorweg, als wegweisend gelten Alben wie "Monster Movie" (1969), "Tago Mago" (1971) und "Future Days" (1973). 1979 war die Luft raus. Die Mitglieder gingen getrennte Wege, halfen sich aber weiter gegenseitig bei Soloprojekten. 1989 kam es mit "Rite Time" zu einer kurzen Can-Reunion. 2001 starb Michael Karoli. 2003 erhielten Can den Echo für das Lebenswerk. Am 12. Juni erscheint "The Lost Tapes".

Zur Person

Irmin Schmidt, der am 29. Mai 75 geworden ist, studierte ab 1957 Klavier und Flügelhorn sowie Komposition und Dirigieren. Als Schüler von Karlheinz Stockhausen und John Cage widmete er sich der Neuen Musik. Vor, während und nach seiner Zeit mit Can (1968-79) komponierte er häufig für den Film. Er arbeitete u.a. mit Wim Wenders und Klaus Emmerich. 1998 gründete er mit Kumo alias Jono Podmore ein innovatives Musikprojekt. Schmidt lebt in Roussillon (Südfrankreich).

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort