Zum Tod von Pierre Boulez Immer ohne Frack, immer mit Partitur

Kaum ein Musiker hat den berühmten Satz Gustav Mahlers, Tradition sei Schlamperei, sich so zu Herzen genommen wie der französische Komponist, Dirigent und Essayist Pierre Boulez. Er zählt zu den großen Erneuerern der Musik.

 Einst wollte er die Opernhäuser in die Luft sprengen: Pierre Boulez 2006 am Pult des Lucerne Festival Acadamy Orchestra. FOTO: DPA

Einst wollte er die Opernhäuser in die Luft sprengen: Pierre Boulez 2006 am Pult des Lucerne Festival Acadamy Orchestra. FOTO: DPA

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"Ich wollte bewusst mit der Tradition brechen, nie aber mit der Geschichte", sagte er einmal, "Geschichte verlangt nach einer gegenwärtigen Befragung, Tradition ist ein totes Museum." Im Alter von 90 Jahren ist Pierre Boulez am Dienstagabend in seiner Wahlheimat Baden-Baden gestorben. Zuletzt war er gesundheitlich sehr geschwächt. Während er an seinem 85. Geburtstag noch selbst im Wiener Musikverein die Philharmoniker dirigierte, mussten die weltweiten Feiern zu seinem 90. Geburtstag im März vergangenen Jahres ohne ihn begangen werden.

Seinem eigenen hohen künstlerischen Anspruch ist Boulez, der der letzte große Komponist der Nachkriegs-Avantgarde gewesen ist, in den vielen Jahrzehnten seiner Karriere nie untreu geworden. Nicht als Dirigent, der neben der neuen Musik nur ganz wenige Komponisten wie Beethoven, Wagner und Mahler aufführte, und schon gar nicht als Komponist. Selbst seine eigenen Schöpfungen waren für ihn keine abgeschlossene Werke, sondern in vielen Fällen Momentaufnahmen einer musikalischen Idee, die in immer neuen Varianten das Licht der Welt erblickte. In "...explosante-fixe..." trieb er dieses Vorgehen auf die Spitze. Die als Reaktion auf Igor Strawinskis Tod 1971 entstandene Musik wurde 1972 uraufgeführt und erfuhr bis 1993 immer wieder neue Veränderungen und Befragungen.

Boulez scheute sich freilich nicht, die strengen Maßstäbe, die er für sich selbst geltend machte, auch bei den Kollegen anzulegen. Seine Härte brachte ihm irgendwann den Spitznamen Robespierre ein. Über die "Turangalîla-Sinfonie" seines von ihm überaus geschätzten Lehrer Olivier Messiaen ätzte er, sie sei "zum Kotzen". Der von den jungen Avantgardisten der 50er Jahre, zu denen neben Boulez auch Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen zählten, als konservativ geringgeschätzte Kollege Hans-Werner Henze wurde aus den Darmstädter Ferienkursen, einem Treffpunkt der komponierenden Elite jener Zeit, regelrecht herausgemobbt.

"Henze ist wie de Gaulle, er kann jeden Mist machen, er glaubt, dass er immer König ist", urteilte Boulez 1967 in einem Spiegel-Interview. Das Gespräch mit dem Nachrichtenmagazin erlangte jedoch vor allem wegen einer anderen Passage Berühmtheit, in der sich Boulez über die Musealisierung des traditionellen Opernbetriebs ereiferte: "Die teuerste Lösung wäre, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Aber glauben sie nicht auch, dass es die eleganteste wäre?"

Boulez, der am 26. März 1925 im französischen Montbrison (Loire) geboren wurde und ursprünglich Mathematik studieren wollte, war freilich ein Bürgerschreck, dessen Zuhause das bürgerliche Lager blieb, das er aufmischte. In den 50er Jahren zog er ins ruhige Baden-Baden, wo er sich vom Pariser Großstadttrubel zu erholen und zu komponieren pflegte. Selbst in der Hochburg kultureller Bürgerlichkeit, Bayreuth, fand er Raum, seine musikalischen Überzeugungen auszuleben. Er dirigierte 1976 den von Patrice Chéreau inszenierten legendären Jahrhundert-Ring und den "Parsifal" gleich doppelt: Zum ersten Mal 1966 und danach wieder 2004 in der ebenso umstrittenen wie gefeierten Inszenierung von Christoph Schlingensief.

In Bayreuth konnte man seine von manchen als kühl empfundenen, analytischen Dirigierstil ebenso bewundern, wie am Pult der großen Orchester dieser Welt. Er war kein Stardirigent, sondern ein Pultarbeiter: Immer ohne Frack, immer ohne Taktstock und immer mit Partitur. Die Wiener und Berliner Philharmoniker verpflichteten ihn gerade deshalb, ebenso die großen Orchester Frankreichs, Englands und der USA. Dass Boulez 1971 als Nachfolger des charismatischen Leonard Bernstein Chef der New Yorker Philharmoniker wurde, hat damals viele Musikfans überrascht.

Seine vielen Verpflichtungen führten ihn auch häufig in die Kölner Philharmonie. Zu seinem 75. Geburtstag dirigierte er hier als "Artist in Residence" vier Konzerte mit dem London Symphony Orchestra. Auch mit dem von ihm gegründeten, auf neue Musik spezialisierten Ensemble Intercontemporain war er häufiger Gast in der Philharmonie.

Mit diesem Ensemble gelang ihm eine der größten Überraschungen seiner Karriere. 1984 nämlich legte er ein Album mit dem Titel "Boulez Conducts Zappa: The Perfect Stranger" vor. Der gestrenge Anvantgardist und das Enfant terrible der Rockmusik, ein Treffen, das beinahe so unwahrscheinlich schien wie der Fall der Mauer.

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