Geschichte eines Absturzes

Bonn · Die Bonner Choreografin Bärbel Stenzenberger inszeniert Albert Camus' "Der Fall" im Euro Theater Central.

 "Der Fall": Raphael Traub (l.) und Olaf Reinecke.

"Der Fall": Raphael Traub (l.) und Olaf Reinecke.

Foto: Lilian Szokody

Wenn er einem Blinden über die Straße geholfen hatte, lüftete er seinen Hut. An wen richtete sich diese Geste, die der Blinde ja nicht sehen konnte? Jean-Baptiste Clamence gibt die Antwort: An die Zuschauer. All seine Hilfsbereitschaft und Wohltätigkeit waren also bloß eine scheinheilige Selbstinszenierung.

Clamence, einst ein erfolgreicher Anwalt in Paris, berichtet in einer Amsterdamer Seemannskneipe von seinem "Fall". Im deutschen Titel von "La Chute", der 1956 erschienenen, letzten vollendeten Erzählung des Dichters Albert Camus, schwingt die juristische Bedeutung mit. Es ist die Geschichte eines Absturzes, der begann, als Clamence auf dem Pont Royal den Sprung einer Selbstmörderin in die Seine nicht verhinderte.

Die fünf Monologe sind eigentlich Dialoge mit einem unbekannten Gegenüber. Sprunghaft wie ein Gespräch, in das immer wieder Erinnerungsmomente und philosophische Reflexionen einfließen. Camus? Clamence beobachtet sich wie eine Figur in einem selbstverfassten Stück.

Dies hat die Regisseurin und Choreographin Bärbel Stenzenberger nun im Euro Theater Central als Koproduktion zwischen dem kleinen Privattheater und ihrer Tanzkompanie "bokomplex" auf die Bühne gebracht. Der in Braunschweig lebende Schweizer Schauspieler Raphael Traub, glatzköpfig mit rotblondem Bart, verkörpert den "Buß-Richter" Clamence. Angeklagt ist ICH.

Der Tänzer Olaf Reinecke zeichnet es von hinten auf die transparente Folie, die anfangs den Spieler und das Publikum als vierte Wand von der Bühne trennt. Reinecke zerreißt den Vorhang und wird zum körperlichen Alter Ego des eloquenten Redners. Manchmal kommentiert er mit ironischer Distanz dessen Aussagen, manchmal scheinen die beiden Figuren miteinander zu verschmelzen.

In der raffinierten Ausstattung von Hedda Ludwig (Bühne und Kostüme) verdoppeln große Spiegel im Hintergrund die Bewegungen und verzerren sie zur Kenntlichkeit. Denn Clamences große Lebensbeichte ist ebenso ehrlich wie verlogen. Eine zynisch eitle Selbstbespiegelung bis hin zu der bewussten Selbsterniedrigung, den lustlosen Ausschweifungen und der Gefangenschaft im "Ungemach", einer Zelle, die weder Stehen noch Liegen erlaubt.

Ist der selbsternannte "Buß-Richter" schuldig am Verschwinden der (bis heute nicht wieder aufgetauchten) Tafel "Die gerechten Richter" des berühmten Genfer Altars? Camus hat diverse Realitätspartikel in seinen Text gebaut (Video-Projektionen: Medienkünstlerin Lieve Vanderschaeve, Ton und Musik: Miroslav Wilner).

Sein bildungsbürgerlicher Protagonist, der das Erhabene schätzt, verliert sich in den konzentrischen Kreisen der Amsterdamer Kanäle, die ihm wie Dantes Hölle erscheinen. Wasser überflutet langsam den Schauplatz (für das kleine Haus eine technische Glanzleistung, Sonderlob für Uwe Rieger!). Es ist kalt und neblig in dem Gebiet um die trostlose Bar "Mexiko City", in der Clamence auf seiner Abwärtsspirale landete. Bis die deutschen Besatzer für Platz sorgten, wohnten dort Juden.

Hinter der schillernden Ästhetik der 75-minütigen, zutiefst bewegenden Vorstellung verbirgt sich eine aktuelle Brisanz, die sich im überzeugten Premierenbeifall spiegelte.

Nächste Aufführungen am 16.9. um 20 Uhr und am 17.9. um 18 Uhr. Weitere Vorstellungen am 23./24.10. Tickets unter Tel. 0228/652950 oder unter www.eurotheatercentral.de. Ab März 2018 ist die Produktion auch in der französischen Originalsprache zu erleben. Die Rolle des Clamence übernimmt dann der Bonner Schauspieler Johannes Prill.

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