Erwin Wurm reizt Grenzen der Skulptur aus

Bei der außergewöhnlichen Ausstellung im Kunstmuseum Bonn gehört der Spagat von banalem Schaustück und hochtrabender Deutung ganz fest zum System. Hier trifft Ironie auf Witz.

Erwin Wurm reizt Grenzen der Skulptur aus
Foto: Franz Fischer

Bonn. Der Blick in eine lange graue Herrenunterhose kann durchaus einen Erkenntnisgewinn mit sich bringen. Es muss ja nicht gleich ein Hinweis auf die Endlichkeit und Vergeblichkeit der menschlichen Existenz sein, wie mancher meint.

Und auch die beschworene skulpturale Offenbarung hält sich in Grenzen, selbst wenn besagte Unterhose über die Öffnung eines Abfallbehälters gespannt wird und man so in zwei jämmerliche graue Zylinder blickt. Erwin Wurm und die Exegese eifriger Kunsthistoriker, das ist ein Thema für sich.

Und so wird man den Verdacht nicht los, dass in seiner schönen Ausstellung im Kunstmuseum Bonn der Spagat von banalem Schaustück und hochtrabender Deutung ganz fest zum System gehört. Der Versuch, Wurm allein mit dem Intellekt beizukommen, scheitert aber zwangsläufig. Man muss diese Kunst spüren, körperlich erfahren. Das ist auch das Besondere an dieser Schau, die nicht nur "Liquid Reality" heißt, sondern auch noch vorführt, wie die Realität sich verflüssigt, verflüchtigt.

Im Museumsfoyer steht bereits ein Renault 25 mit Schlagseite, als hätte ihn eine Riesenhand aus dem Lot gebracht: Schräg, windschief steht das Auto da, der Bildhauer hat es mit seiner Idee (und einem unglaublichen, aber kaum sichtbaren Aufwand) in ein skulpturales Ereignis verwandelt. Ein auf den ersten Blick eher kleiner Eingriff, ein Gag, verändert das Auto, macht es unbrauchbar, bringt auch die ganze Umgebung in Schieflage, sofern man das Auto, wie gewohnt, als Mittelpunkt des Lebens sah.

Ironie trifft auf Witz, und beides bemächtigt sich der Wirklichkeit, der realen Dinge des Lebens, die einer fröhlich-schrägen Metamorphose unterzogen werden. Fast überflüssig zu sagen, dass Erwin Wurm (55) ein Steirer ist, der seinen Lebensmittelpunkt in Wien hat.

Dass in seinen Ausstellungen gelacht wird, fällt fast jedem Rezensenten auf. Das war bei der großen Retrospektive 2007 in den Hamburger Deichtorhallen so und ist auch jetzt bei der Schau "Liquid Reality" der Fall, die aus dem Lehnbachhaus in München kommt und nach Wien und Peking weitergereicht wird.

Warum gelacht wird? Wurm fordert mit seinen "One Minute Sculptures" das Publikum zum Mittun auf, jeder kann Bestandteil der Kunst werden, ganz elementar, vollkommen ohne Pathos. So sieht man erwachsene Menschen, die mehr recht als schlecht auf 16 Tennisbällen liegen, ohne mit dem Körper den Boden zu berühren - und dabei versuchen, an den Philosophen Montaigne zu denken. Ein anderer Besucher stülpt sich eine Handtasche über den Kopf oder steckt denselben in einen weißen Kasten, der zur Werkgruppe "Wittgensteins Alphabet der Raumkrümmung zur Auflösung von Blähungen" gehört.

Jeweils eine Minute lang verschmilzt der Besucher mit dem jeweiligen Artefakt oder hält es aus mit zwei Spargelstücken in der Nase. Er wird zur Skulptur, die wiederum eine menschliche Dimension hinzugewinnt.

Wurms Skulpturen haben aber auch etwas Ausladendes, mitunter Bedrohliches: 14 übereinander gezogene Pullover führen etwa zu einem unguten Volumen und einer starken Einschränkung der Beweglichkeit (ein Objekt in der Ausstellung erinnert an entsprechende Aktionen von Wurm); die gewaltige Erektion einer kopflosen Figur mag vielleicht noch als skulpturale Manifestation durchgehen, wird aber ein ganzer Körper von unzähligen Erektionen gebeutelt, wie das bei einem spiegelnden Alien geschieht, dann bekommt das Ereignis eine lebensbedrohliche Komponente.

Wurms ausufernde Körper-Experimente, von denen leider in Bonn viel zu wenige zu sehen sind, reizen sämtliche Grenzen aus. Sie überwältigen mit dem größten Pullover der Welt. Sie bieten sich an, Elementares zur Skulptur zu ventilieren, über unseren Hang zur Hülle nachzudenken - vom Pulli bis zum Auto -, und den fehlenden Mut, sich vor den Augen aller in eine "One Minute Sculpture" zu verwandeln. Eine schöne, leichte Ausstellung, die man ernst, aber nicht zu ernst nehmen sollte.

Kunstmuseum Bonn, Friedrich-Ebert-Allee 2. Di-So 11-18, Mi bis 21 Uhr. Katalog (Dumont) 49,95 Euro. Eröffnung: Am Mittwoch, 20 Uhr. "Querpass" mit dem Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel am 28. April, 19 Uhr, "Im Dialog" mit Gerhard Finckh, Direktor des Von der Heydt-Museums Wuppertal, am 19. Mai, 19 Uhr.

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