Buchtipp "Die Stille von Chagos" als emotionales Exildrama

Bonn · Shenaz Patels im Bonner Weidle-Verlag erschienener Roman „Die Stille von Chagos“ beschreibt eindrucksvoll die Sehnsucht der Exil-Chargossianer nach ihrer Heimat, indem sie die Reise des jungen Desiré beschreibt.

 „Tupfen von Erde und Sand ... Inseln, auf denen die Zeit ohne Eile vergeht“: Luftbild des Chagos-Archipels.

„Tupfen von Erde und Sand ... Inseln, auf denen die Zeit ohne Eile vergeht“: Luftbild des Chagos-Archipels.

Foto: picture-alliance / dpa

Kein Buch für schwache Nerven. Als der junge Désiré mit einem Hauch Abenteuerlust auf einem Hochseefangschiff anheuert, ahnt er nicht, durch welche Hölle er noch gehen muss. Eingepfercht in eine enge Kajüte kämpft er mit Übelkeit und den rustikalen Umgangsformen der Matrosen. Er hat Panik, ihm ist schlecht, er leidet Todesangst. Und der Leser leidet mit, durchlebt diesen klaustrophobischen Albtraum: „Er kannte dieses Meer nicht. Und das Meer kannte ihn nicht. Es wollte ihn nicht“, bilanziert die Autorin und Journalistin Shenaz Patel lapidar. Es ist das Scheitern eines jungen Mannes. Denn das Meer wäre der einzige Weg zum Ziel gewesen, der einzige Weg, um das Land seiner Eltern zu erreichen. Auf fast jeder Seite von Patels ergreifendem Buch „Die Stille von Chagos“ sind diese Sehnsucht und Verzweiflung zu spüren. Es ist ein trauriges, mitunter herzzerreißend poetisches Buch.

Die 1966 auf Mauritius geborene Patel widmet sich in „Die Stille von Chagos“ einem kollektiven Trauma, das hierzulande kaum jemand kennen dürfte. Für die Chagossianer ist es das große existenzielle Drama ihres Volkes. Der Chagos-Archipel mit 55 Inseln im Indischen Ozean, etwa 1600 Kilometer südwestlich von Indien, gehörte ursprünglich zu Mauritius (bis 1810 französische, dann britische Kolonie). 1968 wurde Mauritius unabhängig – im Gegenzug behielten die Briten den Chagos-Archipel. Sie verpachteten die Hauptinsel Diego Garcia an die Amerikaner, die dort im Kalten Krieg einen wichtigen Stützpunkt errichteten – von dort starteten auch die B-52-Bomber in den Irak (1991) und nach Afghanistan (2001). Die Bevölkerung des Archipels wurde zwischen 1967 und 1973 zwangsweise deportiert und auf den Seychellen und auf Mauritius angesiedelt. 8000 Chagossianer kämpfen mittlerweile für ihr Recht auf Rückkehr. Shenaz Patel erwähnt diesen politischen Kampf im Nachwort. Ihr Buch selbst handelt einerseits von einer Familie, von Einzelschicksalen vor dem Hintergrund der Vertreibung, generell aber auch von Heimatverlust und einem Leben als ungeliebter Außenseiter in der Fremde.

Die Chagossianer sind auf Mauritius nicht willkommen – was die Sehnsucht nach Chagos ins Unermessliche steigert. Patel lässt Raymonde, Désirés Mutter, vom verlorenen Paradies schwärmen: „Tupfen von Erde und Sand... Inseln, auf denen die Zeit ohne Eile vergeht, gleichmäßig und sanft wie die Crème einer weichen Kokosnuss.“ Patel weiter: „Der Gedanke daran genügt, damit sich der Blick verliert. Die Stimme versagt.“ Mitte 1973 musste die hochschwangere Raymonde Chagos verlassen. Auf hoher See wurde Désiré vor Victoria an Bord der „Nordvaer“ am 2. Juni geboren. „Nordvaer“ steht als Geburtstort auf seinen Papieren. Ein Unort, der den Jungen zur Unperson macht. Eine bittere Metapher für eine gerade zurzeit virulente Problematik, der sich die Autorin poetisch nähert – ohne politisch erhobenen Zeigefinger, ohne Pathos und Anklage. Sie lässt das private, intime Drama ihrer Protagonisten Charlesia, Raymonde und Désiré kammerspielhaft das große politische Panorama abbilden. Ein hoch emotionales Experiment, das aufgeht.

„Die Erinnerung“, so schreibt Shenaz Patel, „ist wie ein Angelhaken, der sich unter die Haut bohrt. Je mehr du daran ziehst, desto mehr zerschneidet er dir das Gewebe und dringt tiefer ein.“

Shenaz Patel: Die Stille von Chagos. Aus dem Französischen von Eva Scharenberg. Weidle Verlag, 159 S., 18 Euro

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