Die Sinnlichkeit der Wörter

Lust am Text: "Seide" mit dem Fringe Ensemble im Bonner Ballsaal

Bonn. Alessandro Bariccos Legende vom Ozeanpianisten "Novecento" ist längst ein Theaterrenner. Jetzt hat das Fringe Ensemble den Roman "Seide" auf die Bühne des Theaters im Ballsaal gebracht, das Werk, das den italienischen Autor 1996 schlagartig international bekannt machte.

Severin von Hoensbroech hat die Geschichte vom südfranzösischen Seidenraupenhändler Hervé Joncour inszeniert als "sehr szenische Lesung", was eine sympathische Untertreibung ist. Denn was er gemeinsam mit Bettina Marugg zeigt, ist wunderbar lebendiges Erzähltheater, eine Theaterlektüre also ohne Buch und Lesepult, aber exakt mit dem musikalischen Rhythmus der 65 kurzen Kapitel des Romans und genau mit der merkwürdig schwerelosen Transparenz und lakonischen Ironie von Bariccos Text.

Dieser Text wird im Hintergrund unendlich langsam hochgezogen wie japanische Schriftrollen. Um die Sinnlichkeit der Zeichen und Wörter geht es in der fein gesponnenen Erzählung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angesiedelt ist, als in dem südfranzösischen Städtchen Lavilledieu die Seidenweberei blühte, bis eine weltweit um sich greifende Seidenraupenseuche die Arbeit fast zum Erliegen brachte.

Hervé Joncour macht sich also auf ans "Ende der Welt" zum geheimnisvollen mächtigen Hara Kei, um dort gesunde Seidenraupeneier zu kaufen. Alte Holzkisten für den nicht ganz legalen Transport der wertvollen Fracht markieren den Handelsweg, ein rechteckiger Teich im Vordergrund den Baikalsee und das Meer (Bühne: Eduardo Seru).

Hoensbroech watet auf schweren Holzpantinen durch das Gewässer, das gelegentlich mit Trockeneis in sprudelnde Bewegung versetzt wird. Die beiden Schauspieler machen aus den wiederholten Reiseberichten ein spielerisches Kabinettstück.

Um die Beschreibung irgendwelcher exotischen Landschaften geht es dabei nicht, sondern um das Unsichtbare und Geheimnisvolle einer fremden Welt. Und um eine schöne junge Frau. Es geht um die wenigen stummen Blicke, um die romantische Sehnsucht nach der blauen Blume und vor allem um die in der Sprache aufgehobenen Dimensionen von Raum und Zeit und um die Unerreichbarkeit des vollkommen Schönen.

Einige Textpassagen erklingen traumverloren von einem alten Tonband, gespielt und erzählt wird immer auf der schmalen Linie zwischen Direktheit und Distanz. 90 Minuten Lust am Text, verdienter Beifall im ausverkauften Haus, aus dem sich das Fringe Ensemble jetzt erst mal bis Anfang März verabschieden muss.

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