Orhan Pamuks neuer Roman Die Liebe und die Stadt

BONN · In seinem neuen Roman erzählt Orhan Pamuk die komplizierte Liebesgeschichte eines einfachen Straßenverkäufers und setzt seiner Heimatstadt Istanbul ein weiteres Denkmal.

 Lebensthema und große Liebe: Auch im neuen Roman des türkischen Autors und Nobelpreisträgers Orhan Pamuk "Diese Fremdheit in mir" spielt seine Heimatstadt Istanbul die Hauptrolle.

Lebensthema und große Liebe: Auch im neuen Roman des türkischen Autors und Nobelpreisträgers Orhan Pamuk "Diese Fremdheit in mir" spielt seine Heimatstadt Istanbul die Hauptrolle.

Foto: picture alliance / dpa

Alles beginnt mit einem schwerwiegenden Irrtum: Der junge Straßenverkäufer Mevlut verliebt sich auf der Hochzeit seines Cousins in die jüngere Schwester der Braut. Ein flüchtiger Blick in ihre schönen schwarzen Augen genügt und Mevlut kann drei Jahre lang an kaum etwas anderes denken. Mit Hilfe von Freunden und Fachbüchern schreibt er schwülstige Liebesbriefe an seine Angebetete.

Weil der mittellose Straßenverkäufer nicht erwartet, dass der Brautvater einer Heirat seinen Segen geben würde, entführt Mevlut seine Geliebte nach Istanbul – und merkt erst auf halber Strecke, dass er Opfer einer Intrige geworden ist. Die Frau an seiner Seite ist nicht die hübsche Samiha, sondern ihre ältere, weitaus weniger attraktive Schwester Rayiha.

In seinem neuen Roman „Diese Fremdheit in mir“, der nun in der deutschen Übersetzung erschienen ist, wendet sich der türkische Autor und Nobelpreisträger Orhan Pamuk einem einfachen Istanbuler Straßenverkäufer zu und erzählt von dessen Leben und komplizierter Liebesgeschichte.

Pflichtbewusst heiratet Mevlut Rayiha – und führt mit ihr sogar eine glückliche Ehe, jedenfalls zunächst. Überhaupt ist die Hauptfigur in Pamuks neuem Werk ein sehr genügsamer, geduldiger Geselle. Ende der 60er Jahre folgt er als Zwölfjähriger seinem Vater aus dem mittelanatolischen Dorf in die Metropole, um dort tagsüber Joghurt und nachts Boza zu verkaufen, ein zähflüssiges Getränk aus vergorener Hirse, das nur ganz leicht alkoholisch ist und deswegen auch frommen Muslimen nicht allzu sehr in die Nase sticht.

Wie viele der zahlreichen Zugezogenen aus Anatolien, die in der rasant wachsenden Stadt zu etwas Geld kommen wollen, hausen auch Mevlut und sein Vater in einem ärmlichen Gecekondu, was so viel heißt wie „nachts hingestellt“ und jene behelfsmäßigen Bauten meint, die auf den Hügeln rund um die türkische Großstadt über Nacht illegal aus dem Boden sprießen.

„Abenteuer und Träume des Boza-Verkäufers Mevlut Karatas und seiner Freunde sowie ein aus zahlreichen Perspektiven erzähltes Panorama des Istanbuler Lebens zwischen 1969 und 2012“ – so lautet der ausführliche Untertitel des Romans.

Dieser Zusatz, die beschreibenden Kapitelüberschriften und der auktoriale Erzähler, der immer wieder kommentierend eingreift, verleihen dem Roman streckenweise das Antlitz eines heiteren, historischen Schelmenromans. Die Nebenfiguren kommen immer wieder selbst zu Wort, ergänzen und korrigieren das Erzählte – was bisweilen allerdings in Plauderei ausartet.

Eigentliche Hauptfigur aber ist Istanbul, die Heimatstadt Pamuks, sein Lebensthema und seine große Liebe. Abend für Abend, fast sein ganzes Leben lang, schultert Mevlut das Joch mit den schweren Boza-Kannen und zieht durch dunklen Gassen. Auch wenn das erhoffte Geschäft mit dem Verkauf des langsam aus der Mode kommenden Getränks nicht zu machen ist, empfindet Mevlut diese Arbeit nicht als Last, vielmehr genießt er es, bei den nächtlichen Streifzügen seinen Gedanken nachzuhängen.

Mehr als vier Jahrzehnte lang begleitet der Leser ihn auf seinen Touren, streift selbst mit Pamuk und seinem Boza-Verkäufer durch die Gassen und kann beobachten, wie sich die Stadt verändert, wie die Straßen asphaltiert werden, die dreistöckigen Häuser mit Garten acht- bis zehngeschossigen Hochhäusern aus Beton weichen, wie an jeder Ecke breitflächige Werbetafeln, Banken und Döner-Kebab-Buden entstehen, wie Nationalisten und Linke sich bekämpfen, wie Korruption um sich greift und wie schließlich religiöse Kräfte, auch dank der Zugezogenen, immer mehr Zulauf bekommen. Dabei schauen der Autor und seine Hauptfigur gleichermaßen nostalgisch auf diesen Prozess.

So ist es eigentlich nicht die Handlung, die durch das knapp 600 Seite dicke Buch trägt, sondern dieses facettenreiche Porträt einer Stadt im Wandel, jener Stadt, um die der Autor seit Jahrzehnten immer wieder zwischen den Polen des modernen europäischen Romans und der mystischen Tradition des Orients gewagt konstruierte Romane spinnt. Mit „Diese Fremdheit in mir“ hat Orhan Pamuk seiner Heimatstadt nun ein weiteres Denkmal errichtet.

Wer Gelegenheit hat, nach Istanbul zu reisen, und plant, selbst durch die steilen Straßen dieser faszinierenden Metropole am Bosporus zu streifen, dem empfiehlt sich der neue Roman des türkischen Nobelpreisträgers als Gepäck.

Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir. Hanser, 592 S., 26 Euro. -- Der Autor ist Gast auf der lit.Cologne: Donnerstag, 18. Februar, 19.30 Uhr im WDR-Funkhaus, Wallrafplatz 5. Wer hingeht, braucht aber Mut zum Risiko: Offiziell ist der Termin ausverkauft.

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