"Still Alice - Mein Leben ohne Gestern" Die Auslöschung

In einer der vielen starken Szenen des Films "Still Alice" sitzt die New Yorker Linguistik-Professorin Alice Howland (Julianne Moore) im Theater. Ihre Tochter Lydia (Kristen Stewart) steht als eine von Tschechows "Drei Schwestern" auf der Bühne.

 Der lange Weg ins Vergessen: Julianne Moore als Alice am Strand von Long Island.

Der lange Weg ins Vergessen: Julianne Moore als Alice am Strand von Long Island.

Foto: POLYBAND

Im Text des Dramas kann sich Alice wiederfinden. Die Schwestern fragen sich vergeblich, warum sie leben - und warum das so weh tut. Alice ist an Alzheimer erkrankt, sie spürt, wie sie sich selbst sowie den Kontakt zur Welt und zur Familie verliert. Mutig, aber am Ende erfolglos, kämpft sie gegen die drohende Auslöschung an.

Der Beginn von Richard Glatzers und Wash Westmorelands Film ist eine New Yorker Idylle - eine Idylle der Bessergebildeten und Besserverdienenden. Alice, die an der Columbia University lehrt, ist 50 geworden. Die Familie feiert in einem Restaurant: der Ehemann und erfolgreiche Mediziner John (Alec Baldwin), die attraktiven Kinder Lydia sowie Anna (Kate Bosworth), Tom (Hunter Parrish) und deren Partner. Aber kurz danach nimmt Denis Lenoirs Kamera Haarrisse im perfekten Lebensbild der Sprachwissenschaftlerin auf. Sie verliert beim Laufen die Orientierung, die Umgebung erscheint ihr verschwommen, wie aus dem Fokus geraten. Alice fühlt sich ausgeschlossen und hilflos.

Es folgen weitere Symptome der Krise wie Vergesslichkeit und Wortfindungsschwierigkeiten. Die Summe der oberflächlich betrachtet trivialen Irritationen alarmiert Alice. Vom Neurologen erhält sie die niederschmetternde Alzheimer-Diagnose. Er konstatiert eine besonders aggressive Variante der Krankheit. Der Film nach dem Roman von Lisa Genova begleitet den Zerfallsprozess einer Frau, die sich seit jeher über ihre brillante Intellektualität definiert hat. Julianne Moore, die einen Oscar für ihre Darstellung gewonnen hat, verliert als Alice nie ihre Kampfkraft, auch wenn sie anfangs Scham empfindet - und Angst, die im Streit mit dem Mann ein Ventil findet.

Sie richtet sich im Chaos der Gefühle ein, organisiert ihre Tage akribisch und setzt das Smartphone als Gedächtnisstütze ein. Sie plant sogar für einen Tag X, an dem sie entscheiden würde, aufzugeben. In Moores Augen und in ihrem Gesicht kann man lesen wie in einem Buch. Sie spiegeln alle Nuancen im Empfinden der kranken Alice. Moores Spiel ist hochintensiv, aber nie plakativ, herzzerreißend, aber nie sentimental. Die Familie ist anfangs der Fels, an den sich Alice klammern kann. Aber auch hier bleibt nichts, wie es war. Das Leben geht für John weiter, der an seiner Karriere arbeitet. Alec Baldwin zeigt, wie sich Distanz in die Liebe Johns zu seiner Frau einschleicht. Das Drehbuch von Richard Glatzer und Wash Westmoreland hat ein paar grausame Pointen parat.

Kristen Stewart ist Lydia, die Außenseiterin der Familie, die sich der Schauspielerei zugewandt hat - sehr zum Missfallen der Mutter. Stewart, seit den "Twilight"-Filmen ein Weltstar, arbeitet hier erfolgreich an einem Profil als Charakterdarstellerin. Als dickköpfige, komplizierte und leicht reizbare Tochter kann sie Moores Alice Paroli bieten.

Long Island, wo die Familie ein zweites Zuhause hat, wird zum Ort entscheidender Wendungen. Die Bildersprache von "Still Alice" gewinnt hier poetische Kraft. Die Natur signalisiert Abschied, die Blätter fallen, Moore verliert sich als Alice in der Weite von Strand und Meer. Die Kamera beobachtet sie, wie sie in Fotoalben blättert, die ihr eine Ahnung davon vermitteln, was einmal war. Der Film fühlt sich wohl in der Nähe von Theater und Lyrik. Neben Tschechow wird auch Elizabeth Bishops (1911-1979) Gedicht "One Art" aufgerufen. Die Zeile "The art of losing isn't hard to master" könnte das Leitmotiv des Werkes von Glatzer und Westmoreland sein, das morgen ins Kino kommt. Die Kunst, etwas zu verlieren, heißt es in dem Gedicht, sei leicht zu erlernen - ob es sich um eine verschwundene Armbanduhr handele oder einen geliebten Menschen. Stern

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