90 Jahre Pierre Boulez Der Erneuerer

Pierre Boulez ist ein Mann der klaren Worte. Vor seinem scharfzüngigen Urteil sind nicht einmal Lehrer und Freunde sicher, zu denen auch der große französische Komponist Olivier Messiaen gehörte.

 Leidenschaft für Klarheit: Pierre Boulez.

Leidenschaft für Klarheit: Pierre Boulez.

Foto: DG/ROGER MASTROIANNI

Dessen Drei kleine Liturgien lehnte Boulez als "Bordellmusik" ab und schickte gleich ein weiteres vernichtendes Urteil über das vielleicht populärste Werk seines Lehrers hinterher: "Seine Turangalîla-Sinfonie ist zum Kotzen."

Boulez, der ursprünglich Mathematik studiert hatte, war in den frühen Jahren seiner kompositorischen Laufbahn ein Revolutionär, einer, der für die Erneuerung der Musik kämpfte. Mit Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono und einigen anderen entwickelte er den musikalischen Serialismus, eine mit mathematischer Konsequenz verfolgte Fortsetzung und Weiterentwicklung der Schönberg'schen Zwölftontechnik. Boulez' hochkomplexe Structures für zwei Klaviere zählen hier zu den Schlüsselwerken des Genres.

In seiner Mission für das Neue legte Boulez eine erstaunliche Rücksichtslosigkeit an den Tag. Der durchaus konservativer eingestellte komponierende Kollege Hans-Werner Henze wurde aus dem Kreis der Avantgarde, der sich in den späten 50er und frühen 60er Jahren bei den legendären Darmstädter Ferienkursen traf, regelrecht herausgemobbt. "Henze ist wie de Gaulle, er kann jeden Mist machen, er glaubt, dass er immer König ist", sagte Boulez 1967 in einem Spiegel-Interview.

Berühmt geworden ist dieses Interview, in dem es vor allem um den beklagenswerten Zustand der zeitgenössischen Oper und die zunehmende Musealisierung des traditionellen Opernbetriebs ging, wegen eines anderen Satzes: "Die teuerste Lösung wäre, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen. Aber glauben Sie nicht auch, dass es die eleganteste wäre?" Dass für den französischen Musikrevolutionär der Spitzname "Robbespierre" kursierte, ist vor diesem Hintergrund wenig verwunderlich.

Dabei fühlte er sich im bürgerlichen Lager eigentlich gar nicht einmal so unwohl. In den 50er Jahren zog Boulez nach Baden-Baden, selbst in Bayreuth hatte er Fuß gefasst und 1966 den "Parsifal" dirigiert, später, 1976, den von Patrice Chéreau inszenierten Jahrhundert-Ring, der bis heute - auch musikalisch - nachwirkt. Mit 79 kehrte er noch einmal nach Bayreuth zurück und bereicherte die viel diskutierte Inszenierung von Christoph Schlingensief mit einem glasklaren und schlackenlosen Wagner-Klang, der die Abende in Bayreuth zu einem Ereignis werden ließ.

Seit den 60er Jahren wurde Boulez zunehmend als Dirigent wahrgenommen. Ein Höhepunkt seiner Laufbahn war 1971 seine Berufung als Nachfolger Leonard Bernsteins als Chef der New Yorker Philharmoniker. Er kümmerte sich auch leidenschaftlich um die Verbreitung neuer Musik (zu der für ihn auch Frank Zappas Stücke zählten). 1976 gründete er in Paris das Ensemble Intercontemporain, das gerade erst in der neuen Philharmonie der französischen Hauptstadt Quartier bezogen hat. Und im Centre Pompidou befindet sich das ebenfalls von Boulez ins Leben gerufene Forschungsinstitut für Akustik/Musik IRCAM.

Der im französischen Montbrison im Loire-Tal geborene Musiker hat irgendwann aufgehört, eigenständige neue Werke zu komponieren. Dafür aber versteht er sein eigenes Oeuvre gleichsam als Steinbruch. Mit seinem kompositorischen Werkzeug formt er immer wieder aus Altem Neues, wie etwa aus den fünf Sätzen seiner 1962 uraufgeführten Komposition "Pli selon pli" nach Gedichten von Stéphane Mallarmé. Diese Musik ließ ihn lange nicht los, erst 2001 uraufgeführt, legte er diesen Stoff nach einer gründlichen Überarbeitung beiseite. Vorerst.

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