Mit einer Ballade hat er die Menschen sofort Der Bonner Trompeter Semmel im GA-Interview

BONN · Der Trompeter Reiner Semmel Brothuhn feiert einen besonderen Geburtstag und blickt zurück auf fünf ereignisreiche Jahrzehnte in der Bonner Musikszene.

 Semmel

Semmel

Foto: Benjamin Westhoff

Der Kapitän des Katamarans Filia Rheni vernimmt das ungewöhnliche Signal – und deutet es richtig. „Das ist doch der Semmel“, ruft Clemens Schmitz, „den nehmen wir noch mit.“ Schmitz manövriert die „Tochter des Rheins“ außerplanmäßig ans Ufer und nimmt den Trompeter an Bord. Reiner Semmel Brothuhn ist geladener Gast, er hat das Schiff verpasst und kann sich in solchen Fällen auf seinen hohen Bekanntheitsgrad verlassen. So geschehen im Juni vor zwei Jahren.

Semmel heißt Semmel, weil er Brothuhn heißt. 1949, da war er sieben Jahre alt, kam er zu den Pfadfindern, wo jeder Junge einen Spitznamen hatte. Aus Brothuhn wurde erst „Brötchen“, dann „Semmel“. Der kleine Reiner konnte damit leben: „Klar, bei diesem bekloppten Nachnamen war ich froh, dass man mich nicht Brathuhn nannte“, sagt er und lacht auf seine einnehmende Art.

Die gute Laune machte er früh zu seinem Beruf. Ab 1969 versorgte der agile Trompeter die Bonner Republik mit einem musikalischen Grundrauschen. Kein Bundespresseball, keine Gartenparty in den zahlreichen Landevertretungen ohne Semmel und seine Hot Shots. Die Konzerte kann er nicht mehr zählen, aber die Jahre: Am 25. Juli feiert Semmel seinen 75. Geburtstag. Mit ihm sprach Heinz Dietl.

GA: In ein paar Tagen steht ein Geburtstag an. Alles klar soweit?

Semmel: 75, ja. Das hätte keiner gedacht. Und alles, was ich in diesen Jahrzehnten gemacht habe, war so nicht geplant.

GA: Was war nicht geplant?

Semmel: Ich habe die Ansprüche des bürgerlichen Umfelds, aus dem ich stamme, nie erfüllt. Der Leiter meines Gymnasiums war der Ansicht, ich hätte nicht die geistigen Gaben, jemals ein Abitur zu schaffen. Daraufhin habe ich die höhere Handelsschule besucht. Seither kann ich Schreibmaschine, zehn Finger blind.

GA: Hilft das an der Trompete?

Semmel: Bei der Trompete musst du maximal bis drei zählen können, sie hat nicht mehr Griffe. Aber die kaufmännische Ausbildung hat mich geprägt, auf diesem Sektor kann mir kein Mensch mehr was vormachen.

GA: Das Abitur steht trotzdem in Semmels Biografie. Wie kommt’s?

Semmel: Mein Unterbewusstsein hat mich gesteuert. Ich wollte meine Gymnasiallehrer, das waren in den 50er Jahren noch überwiegend alte Nazis, eines Besseren belehren. Am Hessen-Kolleg in Kassel stieß ich dann auf meine erste Band.

GA: Welche Musikrichtung?

Semmel: Nach dem Krieg war Deutschland von Dixieland überschwemmt. Dieser Mode haben wir uns nicht angeschlossen. Wir spielten klassischen Hot Jazz, also die schwarze Bigband-Musik aus den 20ern, zum Beispiel von Fletcher Henderson.

GA: Was haben Sie nach der Schule und Lehre beruflich gemacht?

Semmel: Musik.

GA: Nur Musik? Als Broterwerb?

Semmel: Mit ein paar kleinen Umwegen. Ich hatte in Marburg und Bonn Jura studiert. Examen gemacht – aber nicht bestanden. Gut so. Jurist war mir nicht geheuer. 1969 wurde ich Mitglied bei den Chicago Footwarmers, 1975 habe ich Semmel’s Hot Shots gegründet. Die Konzerttermine wurden immer mehr, und das ging ein paar Jahrzehnte so.

GA: Konnte man davon leben?

Semmel: Klar, es war natürlich auch Kommerz dabei. Man nannte die Hot Shots schon die „FDP-Kapelle“, weil wir mit Hans-Dietrich Genscher regelmäßig und bundesweit im Wahlkampf unterwegs waren. Genscher hatte am Tag zehn, zwölf Termine, und wir spielten die Musik dazu.

GA: Also war Brothuhn kein brotloser Künstler?

Semmel: Keineswegs. Wir spielten in der legendären Altstadtkneipe Pinte viel Spaßmusik, damit konnte man gut Kohle machen. Im Sommer sind wir durch Südfrankreich gefahren, haben auf der Straße gespielt – und gut gelebt. Wir sahen abenteuerlich aus, schulterlange Haare, Rübezahl wäre vor Neid erblasst.

GA: Empfanden Sie den Beruf als Hobby?

Semmel: Na ja, man muss in diesem Beruf mehr beherrschen als nur die Musik. Man muss Menschenkenntnis mitbringen, ein gutes Netzwerk aufbauen und kaufmännisch einigermaßen beschlagen sein.

GA: Könnte der krisengeschüttelte Tennisstar Boris Becker etwas von Semmel lernen?

Semmel: So gesehen ja. Ich zeige ihm, wie man die Kohle zusammenhält – und er bringt mir Tennis bei.

GA: Wie sahen Netzwerke in den 70er und 80er Jahren aus?

Semmel: Ungefähr so: Ich war 20 Jahre lang Mitglied eines Stammtisches im legendären Marktkrug am Bonner Markt, das fing alles ganz harmlos an. Doch der eine oder andere machte Karriere und saß später in irgendeinem Vorstand. Und wenn Musik gebraucht wurde, hat man auch Semmel’s Hot Shots gefragt.

GA: „Semmel“ ist längst eine Marke. Sind Sie vielleicht sogar der bekannteste Bonner?

Semmel: Würde ich so nicht sagen. Aber ich genieße es, erkannt zu werden, was auch in Berlin, München und Hamburg passieren kann.

GA: Was waren so die verrücktesten Konzerte in all den Jahren?

Semmel: Der Auftritt bei der Grundsteinlegung des Post Towers im Jahr 2000 gehört sicherlich dazu. Das ging richtig tief in die Erde, zehn Treppen und mehr. Es wurde eine Rolle eingemauert, und wird standen in dieser Grube und spielten Hot Jazz.

„Töne gehen direkt ins Herz, in den Bauch, in die Seele“

GA: Wie viele Konzerte sind in den fünf Jahrzehnten zusammen gekommen sind?

Semmel: Keine Ahnung. Man müsste das hochrechnen. 20 bis 30 Jahre lang waren das sicherlich pro Jahr 150 bis 200 Konzerte. Mit Band oder ohne. Man konnte mich immer engagieren. Und wenn ich gerade im Bett lag, stand ich auf und kam. Heute ist das weniger geworden.

GA: Schlimm?

Semmel: Nein. Ich spiele ja noch regelmäßig. Monatlich zwei feste Termine im Kölner Jazzlokal Streckstrump, dann jeden ersten Dienstag im Monat im Lokal Kater 26 in Bonn. Und was sonst so kommt, etwa Jazz im Biergarten.

GA: Sie waren in der Bonner Republik für das musikalische Grundrauschen zuständig. Ist das Ihr Alleinstellungsmerkmal?

Semmel: Ich weiß nicht. Ob Sie das nun schreiben wollen oder nicht, ich erzähle es einfach: Mein letzter „prominenter“ Auftritt diesbezüglich war bei der Beerdigung vor Horst Ehmke. Kurz vor seinem Tod hat er den Wunsch geäußert, dass bei seiner Beerdigung „der Semmel“ spielen sollte. Er hat sogar die Musiktitel vorgegeben.

GA: Was, wenn man fragen darf?

Semmel: „New Orleans Function“ von Louis Armstrong.

GA: Hat Semmel Lampenfieber?

Semmel: Lampenfieber darf man immer haben, ich hatte es selten. Ich entspanne mich, bevor ich eine Bühne betreten.

GA: Wie sieht das aus?

Semmel: Ich stehe nicht am Tresen und erzähle Witze, sondern ziehe mich dezent aus dem Pulk zurück. Zehn Minuten. Dann gehe ich rauf und bin da.

GA: Hat Ihre Art von Jazz eine Botschaft, die über den reinen Unterhaltungswert hinausgeht?

Semmel: Würde ich schon sagen. Musik ist Kommunikation, vielleicht noch mehr als der Austausch mit Worten. Weil: Töne gehen direkt ins Herz, in den Bauch, in die Seele. Mit einer schönen Ballade hast du die Menschen sofort. Auch mit dem alten Jazz.

GA: New Orleans ist die Heilige Stadt dieses Stil. Waren Sie dort?

Semmel: Ja, im Jahr 2008, mit einer Band aus dem Frankfurter Raum. Deren Trompeter war verhindert, ich bin eingesprungen. Zehn Tage New Orleans, es war beim French Quarter Festival im Frühjahr.

GA: Und, wie war’s?

Semmel: Wir sind durch die Bourbon Street marschiert und haben Musik gemacht. Rein musikalisch gesehen gibt es sicherlich aufregendere Momente. Aber es hat viel Spaß gemacht. Es war ein Happening – wie der Rosenmontag in Köln.

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