GA-Serie: Deutsche Mythen Dem Waldsterben in den 1980er Jahren auf der Spur

Bonn · Deutsche Mythen: Die GA-Serie zur aktuellen Ausstellung im Haus der Geschichte widmet sich in dieser Folge dem Waldsterben, das in den 1980er Jahren beschworen wurde.

 Der im Auftrag der Zeitschrift „Neue Revue“ entwickelte „Umweltkoffer“ bot jedem Laien die Möglichkeit, Böden auf die Folgen des „Sauren Regens“ zu untersuchen.

Der im Auftrag der Zeitschrift „Neue Revue“ entwickelte „Umweltkoffer“ bot jedem Laien die Möglichkeit, Böden auf die Folgen des „Sauren Regens“ zu untersuchen.

Foto: Bernhard Hartmann

Es war ein herzliches Kennenlernen, als wir 1986 Verwandte in einer kleinen Stadt namens Dippoldiswalde besuchten, die südlich von Dresden im Erzgebirge liegt. Wir tauschten bei gutem Essen und Trinken, das sie für uns auftischten, Geschichten aus der DDR und der BRD aus und kamen einander näher. Unser Gastgeber ließ mich sogar ans Steuer seines Trabbis, als wir zu einem kleinen Trip zur nahe gelegenen tschechischen Grenze aufbrachen. Ein Vertrauensbeweis.

Doch mehr noch als die Fahrt ist mir der Anblick in Erinnerung geblieben, der sich uns bot, als wir das Ziel erreichten: Tote Fichten, soweit das Auge reichte, ein Friedhof aus abgeknickten Stämmen, Ästen und nadelfreien Zweigen. Und wir fragten uns bang: Wird so die Zukunft des deutschen Waldes aussehen?

Sehnsuchtsort und Schreckensort

In der Ausstellung „Deutsche Mythen“ streift das Haus der Geschichte natürlich auch das Thema Waldsterben, das im Zusammenhang mit dem Kapitel „Der Weg zum grünen Musterland“ behandelt wird. Eine Schrifttafel klärt darüber auf, dass dieses Thema 1981 zu einem Medienereignis wird: „Industrie- und Autoabgase schädigen den Wald laut Presse und Forstwirtschaftlern großflächig“, heißt es da. „Viele Menschen sind aufrichtig besorgt. Die Regierung führt daraufhin strenge Abgasnormen für Industrie und Kraftfahrzeuge ein.“ Und dann die Pointe: „Das vorhergesagte Waldsterben bleibt aus. Bis heute bleibt fraglich: War die Gefährdung real?“

Damit das Waldsterben in den 1980er Jahren in Deutschland überhaupt zu einem Mythos werden konnte, musste der deutsche Wald selbst einer sein. Daran mitgearbeitet haben viele, vor allem die Künstler, Literaten und Musiker der Romantik. Mit seinem „Freischütz“ schuf der Komponist Carl Maria von Weber wohl den Prototyp der romantischen Oper, worin dem Wald eine tragende Rolle zugeschrieben wird. Noch 2012, als längst schon niemand mehr vom Waldsterben sprach, ließ der Regisseur Calixto Bieito in seiner Berliner Inszenierung der Oper den unglücklichen Jägerburschen Max wie in einer Reminiszenz an die Horrorvisionen der 1980er Jahre durch totes Waldgehölz stapfen.

In Webers Oper ist der Wald Sehnsuchts- und Schreckensort zugleich, und er erzählt von den Abgründen der menschlichen Seele. Die Uraufführung fand im Jahre 1821 in Berlin statt, also in jener Zeit, als die pathetische Beschwörung des Waldes als unverfälschte „deutsche“ Landschaft in den Künsten einen ersten Höhepunkt erreicht hatte. Die deutsche Nationalbewegung hatte während der Befreiungskriege von 1813 bis 1815 gegen das napoleonische Frankreich den Wald im historischen Bezug auf die mythische Hermannsschlacht im Teutoburger Wald zu einem Symbol der nationalen Identität erklärt. Mit erstaunlicher Nachhaltigkeit: Der deutschnational gesonnene Komponist Hans Pfitzner schrieb noch 1914 über den „Freischütz“: „Webers Sendung war eine nationale – sie galt der Freiheit und Weltgeltung des Deutschtums.“

Wald instrumentalisieren

Der Wald ist eines der tragenden Motive in der deutschen Kunst- und Kulturgeschichte seit dem frühen 19. Jahrhundert geblieben und wurde auch immer als Gegenentwurf zum urbanen Leben empfunden. Joseph von Eichendorffs Gedichte, in denen sich immer wieder so schön Träume auf Bäume reimen, legen davon ebenso Zeugnis ab wie die Märchen der Brüder Grimm, die erzählen, wie Hänsel und Gretel sich im dunklen Wald verirren, und Rotkäppchen dort dem bösen Wolf begegnet. Musikalisch wurde das Motiv nicht nur von Richard Wagner weitergeführt, der große Teile des „Ring des Nibelungen“ in Waldgegenden spielen lässt, und ihn auch etwa im „Waldweben“ aus dem „Siegfried“ zum Akteur macht. Ein anderer Romantiker, Robert Schumann, komponierte wunderschön feinsinnige „Waldszenen“ fürs Klavier.

Die Nationalsozialisten hatten da leichtes Spiel, den Wald ideologisch zu instrumentalisieren, was zum Teil kuriose Blüten trieb. Sie pflanzten in manchen Gegenden „deutsche Eichen“ als die langlebigsten aller Bäume zu Ehren Hitlers. In Zernikow in der Uckermark setzten sie die Jungeichen in der Weise, dass man später von der Luft aus im Wald die Form eines Hakenkreuzes erkennen konnte.

Selbst nach dem Ende des Dritten Reichs überlebte der Wald als Mythos und wurde volkstümlich wie nie zuvor. In den Wohnzimmern der jungen Republik wimmelte es von „Röhrenden Hirschen“, die romantischen Schauplätze der Heimatfilme vermittelten mit ihren hohen Bergen, tiefen Wäldern und saftigen Wiesen ein wohliges Heimatgefühl.

Und alle lesen „Das geheime Leben der Bäume“

Als 1981 die Nachricht vom Waldsterben die Runde machte, ging es also um viel mehr als um ein Umweltproblem. Den Deutschen drohte plötzlich ein wesentlicher Teil ihrer nationalen Identität abhandenzukommen. Schwer wie Blei schienen die mit dem todbringenden „sauren Regen“ gefüllten Wolken über Deutschland zu hängen. „Mein Freund der Baum ist tot“, hatte Schlagersängerin Alexandra bereits 1968 menetekelhaft mit traurig dunkler Stimme gesungen. Das sollte nun, dachte man in den Achtzigern, Wirklichkeit werden. Das Szenario bescherte der jungen Partei der Grünen einen massenhaften Zulauf, 1983 zogen sie erstmals in den Bundestag ein. Aufkleber wie „Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch“ waren in der Zeit ähnlich populär wie „Atomkraft, nein Danke“.

Ob das drohende Waldsterben je eine wirkliche Gefahr gewesen ist, darüber streiten die Gelehrten bis heute. Andreas Bolte, Leiter des staatlichen Thünen-Instituts für Waldökosysteme in Eberswalde, wies vor drei Jahren im Nachritenmagazin „Der Spiegel“ darauf hin, dass zwar viele Bäume besser mit einem sauren Bodenmilieu zurechtkämen als erwartet, andererseits aber auch die Schutzmaßnahmen eine Menge gebracht hätten. Vor allem die Belastung durch Schwefeldioxid sei dramatisch zurückgegangen: „Ende der 1980er wurden oft noch 25 bis 30 Kilo Schwefeleintrag pro Hektar und Jahr gemessen; heute sind es nur noch drei bis vier Kilogramm.“

Auf jeden Fall aber ist der einst todgeweihte Wald gerettet. Und die Deutschen lieben ihn weiter mit mythischer Inbrunst. Dass sie das Buch „Das geheime Leben der Bäume“ des Bonner Försters Peter Wohlleben nicht von den Bestsellerlisten lassen wollen, sollte da eigentlich niemanden überraschen.

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