Ausstellung "Deutschen Mythen seit 1945" Dem deutschen Mythos vom Wirtschaftswunder auf der Spur

Bonn · Mit einer Serie begleitet der General-Anzeiger die aktuelle Ausstellung im Bonner Haus der Geschichte zu "Deutschen Mythen seit 1945". Im Fokus steht dieses Mal das Wirtschaftswunder und warum der VW-Käfer Symbol dieses Mythos wurde.

Gehen Sie mit der Konjunktur“, forderte Hazy Osterwald seine Zuhörer 1961 auf, und der Berliner Kabarettist Wolfgang Neuss machte schon drei Jahre vorher das „Lied vom Wirtschaftswunder“ populär. „Ist ja kein Wunder nach dem verlorenen Krieg“, heißt es dort ein wenig ironisch, aber das ganze Land war sich einig: Man war wieder wer, wenigstens in der Wirtschaft.

Der Export lief, fast alle hatten Arbeit. Man durfte reisen, sogar nach Italien, denn die Mark galt auch jenseits der Grenzen. Die verarmten, verlausten, obdachlosen, vertriebenen und geflüchteten Deutschen, die Witwen und Waisen waren aus den Notquartieren, Kellerlöchern und Baracken heraus.

Sie lebten in Wohnungen mit Einbauküche, Zentralheizung und fließendem Wasser, es gab ein Auto und einen Kühlschrank. Man feierte gerne und üppig, aß fett, trank oft zu viel und lebte überhaupt sehr ungesund. Aber alle waren froh, überlebt und es geschafft zu haben. Die Katastrophe war vorbei. Es ging wieder aufwärts.

Die Entkleidung des Wunders

Das war natürlich nur die halbe Wahrheit, und die Historiker haben viel unternommen, den Mythos zu entkleiden. Da gibt es schon ein paar gewichtige Argumente. Zum Beispiel war das Land gar nicht so schlimm zerstört, wie alle dachten. Vor allem die Industrie war eher gut durch den Krieg gekommen und konnte gleich 1945 nach ersten Aufräumarbeiten wieder mit der Produktion beginnen.

Von Wunder konnte also keine Rede sein. Wer sich im Glanz seines wirtschaftlichen Erfolges sonnen durfte, musste sich außerdem nicht mehr so sehr mit den bösen Geistern der Erinnerung herumplagen, den Verstrickungen in Verbrechen, den Millionen Toten. Es fiel da gar nicht mehr auf, dass darüber kaum mehr gesprochen wurde. Über die Hintertür Wirtschaft kehrten die Deutschen in den Kreis der geachteten Nationen zurück.

Doch das stört das kollektive Gedächtnis der Menschen nicht. Sie erlebten die Jahre nach dem Krieg als einen raschen Aufstieg in den Wohlstand. Bald schon lief es besser als vor dem Krieg, selbst der Verlust der Ostgebiete war rasch kompensiert. Die Landwirtschaft war der einzige Wirtschaftszweig, der nicht so recht vorankam. Da war es fast ein Vorteil, dass der Osten nicht mehr dabei war.

So etwas durfte man aber nur heimlich denken. Die ganz normalen Menschen gewannen nach den Krisen, die seit 1918 kein Ende genommen hatten, Zuversicht und Sicherheit. Sie bauten ein kleines Vermögen auf, konnten sich ein Haus bauen und in Frieden leben.

Am Anfang dieser Erfolgsgeschichte stand die Währungsreform von 1948, die den Geldkreislauf stabilisierte. Plötzlich gab es wieder Waren zu kaufen und das kleine Glück des Konsums schien für jeden erreichbar. Der Mythos von den 60 Mark Startgeld für jeden, das alle gleich machte, war natürlich Unsinn. Wer ein Haus hatte, Land besaß oder ein Unternehmen, schnitt viel besser ab als all jene, deren Geld in Spareinlagen steckte oder deren Gut im Osten nicht mehr erreichbar war. Sie alle waren ihr Vermögen los.

Anfangs knirschte es noch ein wenig in der Gesellschaft. Es gab Streiks und plötzlich viele Arbeitslose, weil die Löhne jetzt in teurer Mark ausgezahlt werden mussten, was sich nicht jeder Arbeitgeber leisten konnte. Aber das ging rasch vorbei. Als der Korea-Krieg die Amerikaner in die Rüstungsproduktion zwang, stand die gut erhaltene deutsche Industrie bereit, die Lücken auf dem Weltmarkt zu füllen. Der Aufschwung nahm Fahrt auf. Der Export lief an.

Der VW-Käfer als Symbol

Das Symbol des Wirtschaftswunders ist der VW-Käfer. Erich Kästner bezeichnete die 1950er Jahre daher gerne auch als motorisiertes Biedermeier. Den Prototypen hatten die Nationalsozialisten in Auftrag gegeben, sie hatten auch den Grundstein für das Werk in Wolfsburg gelegt. Während des Krieges liefen dort Kübelwagen vom Band. Das VW-Werk kam jedoch erstaunlich intakt durch den Krieg und nahm die zivile Produktion rasch auf. Der Volkswagen entwickelte sich zum Bestseller, weil er perfekt in die Nachkriegszeit passte. Er war preiswert, robust, praktisch und durchaus zu bezahlen.

Jeder wollte ihn haben. Produktion und Verkauf steigerten sich rasch in die Millionen. Der Mythos bekam sein Symbol. Andere Marken aus der Konsumwelt prägen bis heute das Bild dieser Jahre. Max Grundig baute erschwingliche Radios und Fernseher, Miele präsentierte perfekte Waschmaschinen, und was man sonst noch brauchte, lieferte Quelle. Der Versandhauskatalog aus Fürth trug die neue bunte Warenwelt in jedes Dorf. Dass sich hinter dieser schönen neuen Fassade auch die alten Gespenster tummelten, dass viele Fragen der Vergangenheit offen blieben, gar nicht besprochen werden konnten, dass es weiter Armut gab und jene, die am Wirtschaftswunder nur mit Mühe teilhaben konnten, fiel dagegen gar nicht weiter auf.

Ende des Aufschwungs

Der Wohlstand für alle machte auch die Teilung erträglich, denn Millionen Ostdeutsche kamen in den Westen, weil es hier mehr Freiheit und mehr Wohlstand gab. Das führte am Ende sogar zum Mauerbau und es kamen die ersten Gastarbeiter ins Land, weil es anders nicht mehr zu schaffen war. Aber in der Behaglichkeit des freien Westens ließen sich solche Entwicklungen ganz gut ertragen. Nach Jahren der Krisen glaubten die Deutschen, ihr Recht auf einen friedlichen Platz an der Sonne endlich erreicht zu haben, und das auf friedlichem Weg.

Das Wirtschaftswunder gehört in die 1950er Jahre, aber es war erst mit der schweren Wirtschaftskrise von 1973 wirklich vorbei. Ein kleiner Einbruch des ewigen Aufschwungs kostete 1966 Ludwig Ehrhard die Kanzlerschaft, den Vater des Wirtschaftswunders, als den er sich inszenierte. Ironie des Schicksals. Denn diese kleine Wachstumsdelle blieb Episode. Bis 1973 herrschte beinahe Vollbeschäftigung, und alle hatten das Gefühl, es gehe eigentlich immer aufwärts. So lange war es den Deutschen noch nie so gut gegangen. Dass Deutschland am Ende mit der Demokratie und auch der Teilung seinen Frieden machte, liegt wesentlich an diesem guten Gefühl, ein paar wunderbare Jahre erlebt zu haben. Das ist kein Mythos, sondern eine Tatsache.

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