Erstaufführung am Kölner Schauspiel So ist Daniel Kehlmanns "Die Reise der Verlorenen"
Köln · Daniel Kehlmanns neues Stück „Die Reise der Verlorenen“ überzeugt im Depot 2 des Kölner Schauspiels.
Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern“, schallt es im Chor vom Oberdeck. Und seit der Titanic-Havarie weiß man, dass allzu viel Bordmusik stets ein schlechtes Zeichen ist. Auf die St. Louis aber wartet kein Eisberg, sondern ein Bermuda-Dreieck aus Geldgier, internationaler Kaltherzigkeit und Nazi-Zynismus. Es hat das Schiff ebenso gegeben wie „Die Reise der Verlorenen“, die Daniel Kehlmann („Tyll“) dramatisiert und Rafael Sanchez nun im Depot 2 des Kölner Schauspiels zur gefeierten deutschen Erstaufführung gebracht hat.
1939 hoffen rund 1000 deutsche Juden auf die rettende Ausreise nach Havanna. Mit Genehmigung von oben knöpft ihnen die HAPAG-Reederei die Kosten für Hin- und Rückfahrt(!) ab. Kurz vor Kuba zeigt sich, dass die teuren Landeerlaubnisse ihr Papier nicht wert sind und sowohl Amerikaner wie Briten – „Wir haben in England schon sehr viele Juden? Zu viele, wenn Sie mich fragen“ – jedes Asyl verweigern.
Das Schiff nimmt wieder Kurs auf Hamburg, worauf Goebbels sarkastisch beklagt, dass nun Deutschland jene Juden „verköstigen“ müsse, die der Rest der Welt nicht haben wolle. Natürlich fallen sofort Ähnlichkeiten mit heutigen Mittelmeer-Odysseen und Flüchtlingsquotendebatten auf, die hier klugerweise nur das Programmblatt betont.
Schicksalspuzzle mit Entsetzen zwischen den Zeilen
Der erste Blick auf Thomas Dreißigackers Bühne lässt Sprödes ahnen: Hinten ein dunkelgraues Seestück à la Gerhard Richter, davor ein stilisierter Schiffsbug und an der Rampe eine Stuhlreihe. Also artiges Aufsagetheater? Mitnichten.
Sanchez findet den idealen, leichthändig-präzisen Zugriff auf Kehlmanns Schicksalspuzzle, in dem das Entsetzen eher zwischen den Zeilen haust. „Wir sind keine erfundenen Figuren, und deswegen müssen wir es auch nicht spannend machen“, sagt jener Hebräischlehrer Aaron Pozner, der uns gleich mitteilt, dass von ihm nur sein Tagebuch überleben werde. Justus Maier verkörpert ihn mit beiläufigem Fatalismus, der stärker anrührt als jedes Pathos.
Und er braucht nur die Brille abzunehmen, um sich in den Leidensgenossen Max Loewe zu verwandeln oder mit elegant hinter den Körper geschobenem Arm zum verkrüppelten Nazi-Spion Robert Hoffmann zu mutieren. Aus der Not des rund 30-köpfigen Personals macht die Inszenierung die Tugend virtuoser Schauspielkunst. Anfangs drohen die fast zirzensischen Rollenwechsel die Handlung zu überlagern, doch man begreift rasch, wer sich hier dank kleinster Requisiten oder Marotten in wen verwandelt.
Flucht vor Vernichtung wird zur Fahrt ins Verderben
Stargast Peter Lohmeyer etwa spiegelt als Kapitän Gustav Schröder die hanseatische Aufrichtigkeit schon in unbeugsamer Ladestockhaltung, wird aber im Wendemantel zum kubanischen Außenminister oder schrumpft gar an Bord zur buckligen Tante Charlotte. Die darf der bravouröse Stefko Hanushevsky als Neffe geduldig spazierenführen, aus dem freilich blitzschnell der oberste Schiffsnazi Otto Schiendick wird. Er ist neben Pozner der zweite Erzähler des Abends – ein bekennender Dreckskerl, intriganter Schleicher und brutale Wutknolle zugleich. Ähnlich weite Typen- und Emotionsskalen decken Birgit Walter, Kristin Steffen und Nikolaus Benda ab. Dabei kippt die lockere Attitüde der direkt ins Parkett gesprochenen Hintergedanken immer wieder in größte Dramatik: Schaffen es die zwei kleinen Mädchen an Bord auf den Kai von Havanna zum bangenden Vater?
Während ein raffiniertes Video Meer wie Wolken kräuselt und das maritime Gesamtbild in Schieflage gerät, zieht Sanchez die Zügel an: drohende Meuterei, dann gar Schröders Verzweiflungsplan einer absichtlichen Havarie, schließlich die „Erlösung“. Nur dass jene Länder, die gnädigst doch noch je einen Teil der Passagiere aufnehmen, alsbald von Hitlers Truppen überfallen werden.
So wird die Flucht vor der Vernichtung für viele zur Fahrt ins Verderben. Mit dieser schockierenden Pointe endet ein Abend, der neben intelligenter Gegenwartsdramatik und souveräner Regie vor allem eins zeigt: die Brillanz des Kölner Ensembles.
Zwei Stunden ohne Pause. Wieder am 13., 14., 19., 29.11., je 20 Uhr. Karten bei ga.de/tickets.